Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
Vom Netzwerk:
aufs Gras, er spürte, wie die Räder in
der weichen Erde einsanken, und rollte sich rasch an die Stelle, wo er hin
wollte, den Hirsch, der dort gestanden hatte, in die Flucht schlagend.
    Er nahm die Pillenflasche, wog sie langsam in der Hand, jetzt fing
er schon an, es sich anders zu überlegen, du hast doch, was du brauchst, jetzt
geh mit einem Lächeln im Gesicht. Da hast du die Entscheidung, dachte er. So
oder so, du wirst sie doch verlieren. Sonnenklar erschien ihm das, er hatte es
nie so gesehen. Hatte einen Kampf gekämpft, den er niemals gewinnen konnte.
Hast sie alle mit dir runtergezogen.
    Er hielt die Flasche in der Hand. Nein, so wäre es nur aus Scham.
Das wäre nicht die richtige Art und Weise. Die würden viel zu leicht
runtergehen. Du kannst deine Last auch einmal selber tragen, das ist nicht
zuviel verlangt, trag deine eigene Last. Na? Und er tat die Pillenflasche
wieder in die Tasche. Wie viele hab ich genommen? Ich glaub, drei. Das reicht
nicht, mich zu töten. Bloß dass du dich jeden Moment ziemlich gut fühlen
müsstest. Wirf dir die Decke um, damit du nicht erfrierst.
    Er blickte auf die dunklen Wälder und den Fluss, weit weg, da hatte
er sich eine gute Stelle ausgesucht, du hast die Aussicht übers ganze Tal. Es
waren viele gute Jahre gewesen, viel mehr als irgendeinem zustand, und jetzt war
es Zeit, zu tun, was für die anderen gut war. Für seine Familie. Als er das
dachte, schien das Land vor ihm zu kippen, er befand sich wie auf einem hohenSims, und vor ihm breitete sich eine Wand aus Sternenhimmel aus. So etwas
hatte er noch nie gesehen. Die Luft war unbeschreiblich klar. Mit letzter
Kraft, bevor er einschlief, zog er seine Decke um die Schultern, und allmählich
wurde ihm warm.

4 . Harris
    Er parkte seinen Wagen um die Ecke von der ersten Adresse. Das
Gras im kleinen Vorgarten war zwar gemäht, doch auf der Rückseite des Hauses
war das Grundstück übel überwuchert. Eine große Trauerweide überschattete den
Garten, neben der Karkasse eines alten Oldsmobile stand noch ein Traktor ohne
Räder, seltsam fehl am Platz in diesem kleinen Hintergarten. Auf der hinteren
Veranda brummte laut ein Kühlschrank, das Verandadach hing so tief durch, dass
es beinahe die Tür zum Haus blockierte. Harris konnte drinnen nur eine Person
ausmachen, und er blieb in Deckung, schob sich durch das hüfthohe Gestrüpp, vorsichtig
darauf achtend, dass er nicht auf Schrottteile trat, die im Gras verborgen
lagen. Er ging durch die Hintertür hinein. Im Wohnzimmer lag eine alte Frau auf
einem schmalen Bett, ein Sauerstoffgerät stand neben ihr. Er steckte seine
Waffe weg.
    »Ich suche Murray«, sagte er zu ihr.
    »Der ist nich hier«, sagte sie. »Und Geld hat er auch nich.«
    Sie betrachteten sich.
    »Arbeitslos, drei Jahre«, sagte sie. »Von dem kriegen Sie nix.«
    ***
    Ein paar Stunden nach Einbruch der Dunkelheit war er in einem
anderen Viertel, saß auf einem leeren Eimer in einem verlassenen Haus. So weit
er’s sagen konnte, waren alle Häuser an diesem Ende der Straße leer – das Gras
stand hoch in allen Gärten, bis auf einen auffälligen Trampelpfad vom
Bürgersteig zu der Veranda eines Hauses, das er im Visier hatte. Am äußersten
Ende der Straße brannte Licht auf zwei Veranden, doch ansonsten vonBewohnern keine Spur. Um Mitternacht streiften einige Hirsche durch die
Straße, es war merkwürdig, sie auf Asphalt laufen zu sehen, während sie an
Büschen ästen, und dann nahmen sie den Weg zwischen dem Haus, in dem er saß,
und dem, das er beobachtete. Weder sahen sie ihn noch schraken sie auf, was er
als gutes Omen nahm.
    Er hatte Handschuhe und eine Wollmütze an, aber langsam wurde ihm
kalt, und er bekam Hunger. Gegen drei Uhr früh gingen zwei Männer in das Haus,
das er beobachtete, und er war sich ziemlich sicher, dass der eine davon Murray
war. Der Strom schien abgeschaltet zu sein, denn sie zündeten sich Kerzen an
und machten Feuer in einem Kamin. Kurz darauf ging der eine in ein anderes
Zimmer und legte sich hin. Nicht gerade ideal, dass sie zu zweit waren, er
überlegte, ob er warten sollte, bis er Murray irgendwann allein erwischte, aber
wer konnte schon sagen, was passieren würde, schließlich konnte Murray Clark
jeden Moment das Weite suchen und erst zum Prozess wieder auftauchen.
    Harris sah sich das noch eine halbe Stunde an, und dann beschloss
er, dass der zweite Mann jetzt schlief.
    Er öffnete und schloss die Trommel des Revolvers, prüfte die Kaliber
. 45 , ob eine Patrone in

Weitere Kostenlose Bücher