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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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geringgeschätzt, war er in schwärmerischer Liebe zu jenem alten Stabsarzt entbrannt, der den Bürgermeister einmal wegen der Platanen zur Rede zu stellen gewagt hatte. Der alte Kriegsmann kaufte ihn zuweilen bei seinem Vater tageweise los und erteilte ihm Unterricht im Latein und in der Geschichte, das heißt in der Geschichte des Feldzuges in Italien von Anno 1796 9 . Bei seinem Tode hinterließ er ihm sein Kreuz der Ehrenlegion, die Ersparnisse von seiner dürftigen Pension und dreißig bis vierzig Bücher, deren köstlichstes eben in den öffentlichen Bach geflogen war, dem die Macht des Bürgermeisters einen neuen Lauf gegeben hatte.

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Fünftes Kapitel
Ein Handel
Cunctando restituit rem.
    Ennius
    K aum war Julian im Hause, so fühlte er die Hand seines Vaters auf seiner Schulter. Es durchschauerte ihn. Er war auf Schläge gefaßt.
    »Antworte mir ohne Lüge!« schrie ihm der Alte grob in die Ohren und drehte ihn dabei herum wie ein Kind einen Zinnsoldaten. Julians große, schwarze, tränenvolle Augen sahen sich dicht vor den kleinen, grauen, bösen Augen des Müllers, die ihn anblickten, als wollten sie sich in den Grund seiner Seele einbohren.
    »Antworte mir ohne Lüge, wenn du das kannst, du Leseratte! Woher kennst du die Frau Bürgermeister? Wann hast du mit ihr gesprochen?«
    »Ich habe nie mit ihr gesprochen«, antwortete Julian. »Nur in der Kirche habe ich die Dame gesehen.«
    »Aber angestarrt hast du sie, du frecher Wicht?«
    »Niemals. Sie wissen, in der Kirche schaue ich Gott allein.«
    Julian sagte dies demütig und heuchlerisch. Er hoffte, dadurch weitere Maulschellen von sich abzuwenden.
    »Das ist mir nicht ganz geheuer«, brummte der durchtriebene Bauen und schwieg einen Augenblick. »Aber aus dir kriegt man ja nichts heraus, verdammter Heuchler! Gott sei Dank, daß ich dich nun bald los bin. Nicht zum Schaden meiner Mühle. Du hast den Pfarrer oder wer weiß wen zum Freunde. Der hat dir die schöne Stelle verschafft. Pack deine Siebensachen ein! Ich werde dich zu Herrn von Rênal bringen. Du sollst der Erzieher seiner Kinder werden.«
    »Was bekomme ich dafür?«
    »Kost, Kleidung und hundert Taler im Jahre.«
    »Ich mag kein Lakai sein!«
    »Schafskopf! Wer sagt was von Lakai sein? Glaubst du, ich ließe zu, daß mein Sohn Lakai wird?«
    »Aber mit wem am Tische esse ich da?«
    Diese Frage brachte den alten Sorel aus dem Gleise. Er hatte das Gefühl, daß er leicht etwas Unvorsichtiges sagen könne, wenn er weiterredete. Maßlos heftig überhäufte er Julian mit Schimpfworten. Er sei ein Leckermaul. Dann ließ er ihn stehen und holte sich Rat bei seinen andern Söhnen.
    Alsbald sah Julian, wie sie, auf ihre Äxte gestützt, miteinander berieten. Eine Weile schaute er hin. Da er aber keine Silbe verstehen konnte, nahm er seinen Platz an der Säge wieder ein, jedoch jenseits von ihr, um vor einem weiteren Überfall gedeckt zu sein. Er wollte sich das Angebot, das sein Schicksal mit einemmal änderte, überlegen, aber er war unfähig, dies nüchternen Sinnes zu tun. Seine Phantasie malte ihm immer nur vor, was in dem schönen Rênalschen Hause seiner wohl harrte.
    »Lieber auf alles das verzichten«, sagte er sich, »als mich so weit erniedrigen, daß ich zusammen mit den Dienstboten esse! Mein Vater möchte mich offenbar dazu zwingen. Eher sterbe ich! Ich habe fünf Taler und vier Groschen in der Tasche, meine Ersparnisse. Damit laufe ich heute nacht fort. In zwei Tagen gelange ich auf Seitenwegen, wo ich keinen Gendarm zu fürchten habe, nach Besançon. Dort lasse ich mich zu den Soldaten anwerben. Nötigenfalls entwische ich nach der Schweiz. Mit der Karriere ist es dann freilich vorbei. Dann nützt all mein Ehrgeiz nichts. Lebe wohl, schöner Priesterstand, der einem alle Wege öffnet!«
    Julians Abscheu vor dem gemeinschaftlichen Essen mit Dienstboten lag nicht in seiner Natur. Um vorwärtszukommen, hätte er noch viel peinlichere Dinge ertragen. Dieser Widerwille rührte aus Rousseaus Bekenntnissen her, dem Buche, nach dem er sich einzig und allein ein phantastisches Bild von der Gesellschaft machte. Nur die Bulletins der Großen Armee und das Memorial von Sankt Helena ergänzten diese seine Bibel. Für diese drei Bücher wäre er in den Tod gegangen. Allen andern mißtraute er. Einem Ausspruch des alten Stabsarztes zufolge hielt er die ganze Weltliteratur für Lug und Trug, für Machwerke von Narren und Strebern.
    Zu Julians Feuerseele gesellte sich ein fabelhaftes Gedächtnis, wie

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