Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
absolut unfair, aber ich weigere mich, auf die Provokation einzugehen. Stattdessen sehe ich Gabe an, der auf seinen Teller blickt. »Also, was ist los?«, frage ich.
    Draußen, an der Stelle, wo ihre Koppel an den Garten grenzt, höre ich Dove wiehern; sie fordert ihre Handvoll Hafer ein. Finn späht zu Gabe hinüber, der noch immer auf seinen Teller starrt, die Finger auf den Apfelkuchen gedrückt, als wolle er seine Konsistenz prüfen. Plötzlich wird mir bewusst, wie sehr mich der Gedanke an morgen, den Todestag unserer Eltern, belastet, und erst jetzt kommt mir die Idee, dass es für den stillen, beherrschten Gabe genauso sein könnte.
    Er hält den Blick gesenkt. »Ich verlasse die Insel.«
    Finn lässt Gabe nicht aus den Augen. »Was?«
    Ich kann nichts sagen; es ist, als habe Gabe in einer anderen Sprache gesprochen und als müsse mein Gehirn seine Worte erst übersetzen, bevor sie zu mir durchdringen können.
    »Ich verlasse die Insel«, wiederholt Gabe und diesmal klingt seine Stimme fester, entschlossener, obwohl er noch immer keinen von uns ansieht.
    Finn bringt als Erster einen vollständigen Satz heraus. »Was sollen wir mit unseren Sachen machen?«
    »Was ist mit Dove?«, füge ich hinzu.
    Gabe antwortet: »Ich verlasse die Insel.«
    Finn sieht aus, als habe Gabe ihn geohrfeigt. Ich recke das Kinn vor und versuche Gabe dazu zu bringen, mich anzusehen. »Du willst ohne uns gehen?« Dann aber formt sich in meinem Kopf eine logische Erklärung, die ihn entlastet, und ich spreche sie selbst aus. »Also bleibst du nicht lange weg. Du bleibst nur, bis ...« Ich schüttele den Kopf. Ich weiß nicht, wozu er nur kurz aufs Festland gehen sollte.
    Endlich hebt Gabe den Blick. »Ich ziehe weg.«
    Mir gegenüber klammert sich Finn an die Tischkante, die Finger so fest auf das Holz gepresst, dass sie an den Spitzen weiß und dahinter dunkelrot sind. Ich glaube nicht, dass er es überhaupt merkt.
    »Wann?«, will ich wissen.
    »In zwei Wochen.« Irgendwo zu seinen Füßen miaut Puffin, die ihr Kinn an seinem Bein und seinem Stuhl reibt, aber Gabe sieht nicht zu ihr hinunter, beachtet sie gar nicht. »Ich habe Beringer versprochen, dass ich noch so lange bleibe.«
    »Beringer?«, frage ich. »Du hast Beringer versprochen, dass du noch so lange bleibst? Und was ist mit uns?. Was soll aus uns werden?«
    Er weicht meinem Blick aus. Ich versuche mir auszumalen, wie wir über die Runden kommen sollen, mit einem Connolly weniger in Lohn und Brot und einem leeren Bett mehr.
    »Du kannst nicht gehen«, beschließe ich. »Nicht so bald.« Mein Herz rast in meiner Brust und ich muss meine Kiefer aufeinanderpressen, damit meine Zähne nicht klappern.
    In Gabes Gesicht zeigt sich keine Regung und ich weiß, dass ich das, was ich als Nächstes sage, bereuen werde, aber es ist alles, was mir einfällt, also spreche ich es aus.
    »Ich reite das Rennen mit«, sage ich. Einfach so.
    Jetzt habe ich die volle Aufmerksamkeit meiner Brüder und meine Wangen fühlen sich an, als hätte ich mich zu dicht über eine heiße Herdplatte gebeugt.
    »Ach, komm schon, Kate«, sagt Gabe, aber seine Stimme ist nicht so fest, wie sie sein sollte. Er glaubt mir fast, wenn auch gegen seinen Willen. Bevor ich weiterspreche, muss ich jedoch erst einmal herausfinden, ob ich mir selbst glaube. Ich denke an heute Morgen, den Wind in meinen Haaren, Dove unter mir im gestreckten Galopp. Ich denke an den Tag nach dem Rennen, die roten Flecken im Sand am oberen Teil des Strands, den das Wasser noch nicht erreicht hat. Ich denke an die letzten Boote, die vor dem Winter die Insel verlassen, und stelle mir Gabe in einem von ihnen vor.
    Ich könnte es, wenn es sein muss.
    »Doch, wirklich. Hast du es noch nicht gehört? Die Pferde kommen an Land. Morgen fängt das Training an.« Ich bin so stolz darauf, wie fest und ruhig meine Stimme klingt.
    Gabes Lippen bewegen sich, als würde er alles Mögliche sagen, ohne dass ein Ton herauskommt, und ich weiß, dass er im Kopf sämtliche Gegenargumente durchgeht, die ihm einfallen. Ein Teil von mir hofft, dass er sagt: »Das kannst du nicht«, damit ich fragen kann: »Und warum nicht?«, denn dann würde er merken, dass er nicht antworten kann: »Weil Finn nachher vielleicht ganz allein ist.« Und er selbst kann auch nicht fragen: »Warum?«, weil er sich dann dieselbe Frage stellen müsste. Ich sollte ziemlich zufrieden mit mir und meiner Gewieftheit sein, denn Gabe sprachlos zu machen, ist nicht einfach, stattdessen aber

Weitere Kostenlose Bücher