Rot wie das Meer
Hügel teilen und ein Pfad zum Strand hinunterführt – das Land hebt sich in dunklerem Schwarz gegen das des Himmels ab –, da höre ich einen Schrei. Der Wind trägt ihn zu uns herüber, hoch und dünn und schrill, und es ist unmöglich zu sagen, ob er von einem Menschen oder einem Tier stammt. Die Härchen in meinem Nacken kribbeln in einer düsteren Vorahnung, die ich schnell verdränge, und ich fange an zu rennen.
Brian bleibt zurück – ich glaube, er kann einfach nicht mehr – und ich spüre, dass Jonathan hin- und hergerissen ist, weil er nicht weiß, ob er bei seinem Bruder bleiben oder mir folgen soll.
»Ich brauche die Taschenlampe, Jonathan!«, rufe ich über die Schulter zurück. Der Wind peitscht meine Worte nach hinten, und obwohl Jonathan mir antwortet, kann ich ihn nicht hören. Ich renne aus der Reichweite seiner Lampe hinaus in die Dunkelheit, stolpere und schlittere den steilen Wegabschnitt bis zum Strand hinunter. Einen kurzen Moment lang fürchte ich, einfach nicht weiterzukönnen, weil ich nichts sehe, dann aber mache ich noch ein paar Schritte und erkenne weiter unten am Strand ein Gewirr wild zuckender Taschenlampen. Dahinter liegt das Meer, vom bleichen Mondlicht schwach erleuchtet.
Der Wind saugt alle Geräusche in die entgegengesetzte Richtung, sodass die Männer am Strand wie stumm wirken, als ich mich ihnen nähere. Der Kampf mutet beinahe elegant an, bis ich schließlich nahe genug bin. Es sind vier Männer und sie haben ein graues Wasserpferd mithilfe einer Schlinge um den Hals und einer weiteren um ein Hinterbein, kurz über dem Huf, gefangen. Sie zerren an den Stricken und springen vor und zurück, während das Pferd sich aufbäumt und tänzelt, aber sie haben keine Chance und das wissen sie. Sie haben den Tiger beim Schwanz gepackt und nun dämmert ihnen, dass sie damit auch in Reichweite der Klauen sind.
»Kendrick!«, ruft einer von ihnen. Ich weiß nicht, wer. »Wo ist Brian?«
»Sean Kendrick?«, schreit ein anderer und diesmal weiß ich, dass es Mutt ist. In den Händen hält er den Strick, der um den Hals des Pferdes geschlungen ist. Ich erkenne seine Statur, die breiten Schultern und den wuchtigen Hals, der ihm gleichzeitig als Kinn dient. »Wer hat den Scheißkerl hergeholt? Geh wieder ins Bett, du Pferdeflüsterer, ich hab hier alles unter Kontrolle.«
Er hat das Pferd ungefähr so unter Kontrolle wie ein Fischerboot die See. Jetzt kann ich sehen, dass Padgett die andere Leine hält, ein älterer Mann, der klüger sein sollte, als Mutt sein Leben anzuvertrauen. Neben mir höre ich zwischen zwei Windböen ein Geräusch; ich werfe einen Blick zur Seite und erkenne einen weiteren von Mutts Freunden. Wo die Klippe über dem Strand aufragt, sitzt er gekrümmt an die Felswand gelehnt und hält sich einen Arm, der aussieht, als wäre er gebrochen. Der Laut, den ich wahrgenommen habe, war ein Wimmern.
»Hau ab, Kendrick!«, brüllt Mutt.
Ich verschränke die Arme und warte ab. Das Pferd hört für einen Moment auf, sich zu wehren. Vor dem hellen Kalk der Klippe sehe ich die bebenden Seile zwischen den Männern und dem Capaill Uisce. Das Pferd ist erschöpft, genau wie die Männer. Mutts muskelbepackte Arme zittern ebenso stark wie der Strick in seinen Händen. Die anderen schleichen um sie herum und legen Schlingen auf dem Strand aus, in der Hoffnung, dass das Pferd hineintritt. Jemand, der nicht viel über die Wasserpferde weiß, könnte denken, dass dieses Capaill Uisce, dessen Flanken sich heben und senken, sich geschlagen geben will. Ich aber sehe seinen zurückgelegten Kopf, der mehr an ein Raubtier oder einen Greifvogel als an ein Pferd erinnert, und weiß, dass der Kampf kurz davor ist, ein hässliches Ende zu nehmen.
»Mutt«, sage ich. Er dreht sich noch nicht mal zu mir um, aber wenigstens habe ich es gesagt.
Plötzlich spannt sich der Strick am Hinterbein des Pferds und das graue Capaill macht einen Satz auf Mutt zu. Sand und kleine Steinchen fliegen mir ins Gesicht, als sich seine Hufe in den Boden graben. Schreie gellen durch die Luft. Padgett schwankt und zerrt an seiner Leine, um das Tier aus dem Gleichgewicht zu bringen. Mutt jedoch ist zu sehr auf seine eigene Sicherheit bedacht, um den Gefallen zu erwidern. Als der Strick um seinen Hals plötzlich nachgibt, bewegt sich das Pferd rückwärts auf Padgett zu. Seine Hufe zeichnen Kreise in den Sand. Dann ist das Pferd über Padgett, Zähne senken sich in die Schulter des Mannes, während die Vorderbeine
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