Rot wie Schnee
sagte Angel, »ich bin noch nicht fertig.«
Manuel konnte nicht anders, er musste einfach lachen. Angel könnte Schriftsteller werden, er kann so gut erzählen, dachte er, und setzte sich wieder hin.
Auf der anderen Seite des kleinen Ackers tollten unbekümmert wilde Kaninchen herum, neugierig und verspielt, und achteten nicht auf den Habicht oben am Himmel.
»Du bist genauso ein Rammler. Aber das Leben ist nicht nur Spiel.« Manuel bereute seine Worte sofort.
Er war der älteste von drei Brüdern. Viel zu oft übernahm er die Rolle desjenigen, der die Verantwortung trägt, des Ermahners. Patricio, der mittlere der drei, und Angel waren eher zu Lachen und kindlichen Streichen aufgelegt, sie waren |8| schnell und oft verliebt. Eigentlich beneidete Manuel sie um ihren Optimismus und ihre Unbeschwertheit.
Angel folgte dem Blick des Bruders und entdeckte den Raubvogel am Himmel, der sich langsam herabsinken ließ. Er hob die Arme, als hielte er ein Gewehr, zielte und schoss. »Päng!«, rief er und lachte Manuel zu.
Manuel lächelte. Dann senkte er den Kopf. Er wusste, dass der Habicht gleich zum Sturzflug ansetzte, und er wollte nicht mit ansehen, wie er seine Jagd erfolgreich beendete.
»Ich habe ihn verfehlt, aber der Habicht muss doch auch leben«, sagte Angel, als hätte er die Gedanken des Bruders gelesen. »Es gibt so viele Wildkaninchen.«
Manuel war auf einmal sehr unzufrieden, dass der Bruder spanisch sprach, aber ehe er ihn noch zurechtweisen konnte, schreckte er hoch. Er richtete sich auf und sah zu der Frau auf dem Nachbarsitz. Sie schlief. Offenbar hatte er sie nicht geweckt, als er beim jähen Aufwachen zusammenzuckte.
Irgendwo dort unten war Patricio. Seit er die Nachricht von Patricios Schicksal bekommen hatte, war er hin und her gerissen zwischen Wut und Trauer. Die Brüder fehlten ihm so. Patricios erster Brief hatte aus drei Sätzen bestanden: »Ich lebe. Sie haben mich geschnappt. Und ich bin zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.«
Der nächste Brief war etwas ausführlicher. Er war zwar sachlich, aber hinter den dürren Worten konnte Manuel schon die Erschöpfung und Verzweiflung ahnen, die in den späteren Briefen vorherrschten.
Manuel konnte sich Patricio nicht hinter Gittern vorstellen. Ihn, der die weiten Felder liebte und der seinen Blick immer so weit wie möglich in die Ferne richtete. Patricios Ausdauer und Beharrlichkeit hatten Manuel und Angel immer wieder erstaunt. Er war stets bereit, noch einige Schritte |9| weiter zu gehen, nur um zu sehen, was sich hinter der nächsten Ecke oder der nächsten Kurve verbergen mochte.
Physisch war er der kräftigste der Brüder, gut einen Meter achtzig groß und damit länger als die meisten im Dorf. Seine Größe, seine Haltung und seine Augen hatten dazu beigetragen, dass ihm im Dorf ein gewisser Ruf vorauseilte. Er galt als vernünftiger Mann, auf dessen Wort man hören sollte. Angel war der Schwätzer, der sich nur ungern bewegte, Patricio hingegen war beweglich und wortkarg, nachdenklich in seinem Reden und zurückhaltend in seinen Gebärden. Gemeinsam war beiden eigentlich nur ihr Lachen.
Manuel hatte dem Brief des Bruders entnommen, dass das Gefängnis in Schweden ganz anders als die war, die man in Mexiko kannte. Dass sie in der Zelle einen Fernseher haben dürften und dass sie studieren könnten. Aber was sollte er studieren? Patricio hatte sich nie etwas aus Büchern gemacht. Er studierte lieber die Menschen und die Natur. Die anfallenden Arbeiten erledigte er unwillig, egal ob es um die Aussaat, das Jäten oder Ernten ging. Die Machete führte er oft kraftlos und unkonzentriert.
»Wenn du glaubst, dass ich so ein armer Campesino bleibe, dann täuschst du dich«, wiederholte er jedes Mal, wenn ihn Manuel daran erinnerte, dass er ein Erbe zu verwalten habe.
»Ich will nicht wie ein Ranchero in den Bergen sitzen, Bohnen und Tortillas futtern, einmal in der Woche in die Stadt kommen und mich mit Aguardiente volllaufen lassen. Und dabei die ganze Zeit immer ärmer werden. Siehst du nicht, wie wir übers Ohr gehauen werden?«
Würde er es aushalten, acht lange Jahre eingesperrt zu sein? Manuel fürchtete um das Leben und die Gesundheit seines Bruders. Patricio einzusperren kam einem Todesurteil gleich. Als Manuel ihm schrieb, er käme nach Schweden, hatte der Bruder unmittelbar geantwortet. Er wolle keinen Besuch. Aber darum scherte Manuel sich nicht. Er musste |10| herausfinden, was passiert war, wie alles zugegangen war. Wie
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