Rot wie Schnee
mich«, sagte Helen.
Eva sah eine Weile auf die Karte. Sie folgte der Küstenlinie und las die fremden Ortsnamen. Die Inseln nördlich von Venezuela lagen aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur. Mehr und mehr störte sie das Geräusch des Feilens.
»Ich würde gern die Fische sehen, diese tropischen in allen Regenbogenfarben.«
Ehe sie weiterblätterte, warf sie einen Blick auf die Digitaluhr des Videorekorders.
Plötzlich sagte sie: »Man sollte bei einem Kurs mitmachen. Um segeln zu lernen, meine ich. Vielleicht ist das gar nicht so schwer.«
»Kennst du jemanden mit einem Segelboot?«
»Nein«, sagte Eva, »aber man kann ja jemanden kennenlernen.«
Ohne etwas wahrzunehmen, starrte sie auf den nächsten Zeitungsartikel. Darin ging es um eine Schule in Südschweden, die abgebrannt war.
»Vielleicht begegnet man ja mal so einem Schätzchen mit einem Schiff. Aber ein Segelboot muss es schon sein, keins mit Motor.«
»Wer sollte das sein?«
»Ein gut aussehender, freundlicher Mann. So ein netter Typ.«
»Der eine nicht mehr ganz junge Frau mit zwei Kindern haben will? Wie?«
Die Worte trafen Eva unerwartet hart.
»Und was ist mit dir?«, entgegnete sie feindselig.
Das Feilen hörte auf
.
Eva blätterte weiter. Sie spürte Helens Blick. Sie wusste ganz genau, wie die Freundin aussah: heruntergezogene Mundwinkel, auf der Stirn eine senkrechte Falte und dazu wie der Punkt eines Ausrufungszeichens das Muttermal zwischen den Augenbrauen.
Helen konnte unglaublich unzufrieden aussehen. Irgendwie |19| so, als würde sie jede Sekunde hinters Licht geführt. Was allerdings stimmte, ihr Mann betrog sie dauernd.
»Was meinst du damit?«
»Nichts besonderes«, sagte Eva und warf der Freundin einen Blick zu.
»Du bist ja vielleicht drauf! Ich kann doch nichts dafür, dass du dich abserviert fühlst.«
»Ich bin nicht abserviert! Man hat mir nach elf verdammten langen Jahren gekündigt.«
Eva schob die Zeitung beiseite und stand auf. Helen benutzte nicht zum ersten Mal das Wort »abserviert«. Eva hasste es. Sie war vierunddreißig, und da war man als Mensch doch überhaupt nicht am Ende!
»Ich werde mir einen neuen Job besorgen«, sagte sie.
»Viel Glück«, sagte Helen lakonisch und feilte ungerührt weiter.
Eva ging in die Küche, raffte die Papiere vom Arbeitsamt zusammen und schob sie zwischen die Kochbücher auf der Bank. Patrik würde bald nach Hause kommen.
Das methodische Feilen war bis in die Küche zu hören. Eva blieb vor dem Schrank stehen, in dem die Packung O’boy stand. Langsam wurden schon die alltäglichsten Handgriffe wie Milch und Trinkschokolade bereitzustellen, wichtig und bedeutungsvoll. Sie streckte die Hand zum Schrank aus. Der weiße Rand über dem Handgelenk, wo die Uhr gesessen hatte, erinnerte sie daran, wie die Zeit verrann. Sie bewegte sich abwartend, als sei sie in ihrer eigenen Küche eine Fremde, unterdessen eilten die Sekunden, Minuten und Stunden unerbittlich dahin. Die Hand war warm, aber der Griff war kühl. Der Arm war braun und von kleinen Leberflecken übersät. Es waren in den letzten Jahren immer mehr geworden.
Eva öffnete die Schranktür. Das Feilen hatte aufgehört, und nun war nur noch das Rascheln zu hören, als Helen in der Zeitung blätterte.
|20| Im Schrank standen Zucker, Mehl, Haferflocken, Popcorn, Kaffee und andere Trockenwaren. Sie fixierte jede Verpackung, als sähe sie sie zum ersten Mal.
Erst als Eva hörte, dass Patrik die Wohnungstür aufschloss, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Schnell nahm sie die Trinkschokolade, öffnete die Kühlschranktür und holte die Milch heraus. Noch knapp zwei Liter. Nur ein kleines Stück Gurke, der Käse uralt, aber genügend Dickmilch und Eier, stellte sie mit einem Blick fest.
»Hallo!«, rief sie und wunderte sich, wie fröhlich sie klang. Schon wenn sie seine Schritte in der Diele hörte, musste sie lächeln.
Er bewegte sich so gemächlich, und er wirkte etwas mürrisch, aber dahinter verbarg sich eine interessierte Aufmerksamkeit, die sie jedes Mal aufs Neue verblüffte. Und er wurde immer gescheiter. Wenn sie das ansprach, wurde er abweisend, und wenn sie ihn lobte, setzte er eine Miene auf, als hätte er keine Ahnung, wovon sie sprach. Als wollte er auf keinen Fall als fürsorglich und umsichtig gelten.
Er kam in die Küche und setzte sich. Eva deckte schweigend den Tisch.
»Wer ist noch hier?«
»Helen. Sie wollte das Bügeleisen ausleihen.«
»Hat sie keins?«
»Das ist kaputt.«
Patrik
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