Rot wie Schnee
altes Leben hinter sich lässt und unterwegs ist zu Neuem und Unbekanntem.
Ein Telefonat hatte gereicht, sekundenlanges Überlegen – und schon hatte er sich entschieden. Hatte überstürzt seine wenigen Habseligkeiten gepackt, viel zu wenige im Übrigen, und sich auf den Weg gemacht.
Er wünschte, die Flucht könnte ewig dauern, nur der Inhalt des Benzintanks, der Hunger und die Blase dürften mitentscheiden. Wünschte, die Bewegung würde zur Hauptsache und er könnte immer so weitersausen.
Hätte er eine Kamera einsetzen sollen, würde er sie auf die Straße ausrichten, auf die Schwärze des Asphalts, die sichtbaren Verkehrsspuren darauf, die Riffelungen von den Zähnen der Schneeräumfahrzeuge, aber nicht auf sein Gesicht oder die vorüberflimmernde Landschaft. Die starren Schultern und der krampfhafte Griff der Hände um das Steuer sollten zum Betrachter sprechen. Das rhythmische Pochen der Straße reichte als Lautuntermalung. Nicht Madeleine Peyroux’ Stimme aus dem C D-Player .
Der Enttäuschung und der Trauer war er gewachsen, vermutete |16| er. Aber auch den Hoffnungen und Träumen? Er dachte sich Beschreibungen von Essen aus, stellte Teller mit einem Gericht zurecht, einen nach dem anderen. Dass er Koch war, rettete ihn für den Moment.
Als Geliebter war er unbrauchbar, er bekam ihn nicht mal mehr zum Stehen. Als Partner war er im Übrigen genauso ungeeignet, das war ihm langsam, aber sicher bewusst geworden. Doch als gestern Abend Sofia seine Bemühungen als hohles Geschwätz abgetan hatte, da hatte ihn die Gewissheit schier umgeworfen.
»Du lebst doch nicht«, hatte sie gesagt. »Deine sogenannte Fürsorglichkeit für unsere Beziehung ist lachhaft. Es ekelt mich an. Du kannst doch gar nicht lieben.«
Da hatte er sie gepackt, hatte ihren Körper an seinen gepresst und dabei zum ersten Mal seit Monaten Begierde gespürt. Angewidert hatte sie sich befreit.
»Ekel«, sagte er laut. »Was ist das denn für ein Wort?«
Er fuhr an Linköping vorbei, an Norrköping, raste durch Södermanland. Mit wachsender Verzweiflung fuhr er viel zu schnell. Die Regie funktionierte nicht mehr. Er drehte die Musik noch lauter, spielte dieselbe CD immer wieder.
Als er in die Nähe Stockholms kam, konzentrierte er sich darauf, an den neuen Job zu denken. »Dakar«. Er wusste von dem Lokal nicht mehr, als das, was er in der Nacht darüber im Internet hatte finden können. Die Speisekarte sah auf dem Papier ganz okay aus. Trotzdem stimmte irgendetwas nicht. Es klang, als versuche jemand, fein zu sein, ohne aber seinen eigenen Superlativen gerecht werden zu können. An Selbstbewusstsein fehlte es nicht. Aber der Texter hatte einfach zu dick aufgetragen.
Seine Schwester in Uppsala hatte ihm den Tipp gegeben. Dann hatte er den Besitzer angerufen. Der hatte rasch ein paar Referenzen eingeholt und eine halbe Stunde später zurückgerufen |17| und ihm mitgeteilt, er bekäme den Job. Es war fast so, als wüsste er um Johnnys Lage.
Johnny kannte Uppsala nicht, er wusste nur, dass es dort eine Universität gab. Seine Schwester hatte nicht sehr viel erzählt, aber das war auch nicht nötig. Er sollte … tja, was denn? Kochen natürlich! Aber sonst?
4
S tell dir vor, man könnte da mitsegeln!«
Eva Willman lächelte vor sich hin. Den Zeitungsartikel über das Ferienparadies Westindische Inseln illustrierte das Foto eines Segelschiffs. Die Segel blähten sich im Wind, vor dem Bug schäumte die See. Ein Wimpel flatterte oben im Mast. Achtern stand ein Mann in blauen Shorts und weißem Hemd. Er trug eine blaue Kappe. Er wirkte völlig entspannt, obwohl er die Verantwortung für ein ziemlich großes Schiff hatte. Eva vermutete, dass er es war, der den Kurs bestimmte. Sie meinte zu sehen, dass er lächelte.
»Ich hätte noch nicht mal genug Geld für diese Kappe«, fuhr sie fort und deutete auf das Foto.
Helen, die auf dem Sofa saß, beugte sich vor, um einen Blick auf den Artikel zu werfen, ließ sich aber gleich wieder zurücksinken und feilte weiter ihre Nägel.
»Ich werde seekrank«, sagte sie nur.
»Aber stell dir doch mal diese Freiheit vor!« Eva las weiter.
Es ging in dem Artikel um die Inselgruppe Aruba, Bonaire und Curaçao. Sie wurden als das reinste Paradies beschrieben, als ein Ort, an dem sich die Alltagssorgen vergessen ließen. Und der ein Eldorado für Schnorchler und Taucher war.
»Die Antillen«, murmelte sie. »Wie viele Orte und Plätze es auf der Welt gibt.«
|18| »Schiffe sind nichts für
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