Roter Drache
stand er in der Tür des Schlafzimmers. Auch ohne die Taschenlampe konnte er seine Umgebung schwach erkennen. Eine Digitaluhr auf einem Nachttisch projizierte die Zeit an die Decke, und neben dem Eingang zum Bad brannte ein orangenes Nachtlicht. Der Kupfergeruch von Blut war allgegenwärtig. Augen, die sich einmal an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnten hier genügend sehen. Der Irre hatte auf jeden Fall Mr. Leeds von seiner Frau unterscheiden können. Das Licht im Raum war hell genug, um auf das Bett zuschreiten zu können, Leeds an den Haaren zu packen und ihm die Kehle durchzuschneiden. Und dann? Zurück zum Wandschalter, ein Gruß an Mrs. Leeds und schließlich der Schuß, der sie bewegungsunfähig machte?
Graham knipste das Licht an, worauf ihm von den Wänden, von der Matratze und vom Boden Blutflecken entgegenbrüllten. Sogar die Luft selbst schien mit Schreien beschmiert. Der Lärm in diesem totenstillen Raum voller dunkler, trocknender Flekken ließ ihn zusammenzucken. Graham setzte sich auf den Boden, bis in seinem Kopf wieder Ruhe eingekehrt war. Ruhig bleiben, ganz ruhig.
Die Beamten der Mordkommission von Atlanta, welche den Tathergang zu rekonstruieren versuchten, hatte die Anzahl und Vielfalt der Blutflecken vor ein Rätsel gestellt. Sämtliche Opfer waren tot in ihren Betten vorgefunden worden. Dem widersprachen jedoch die Blutflecken, die über den ganzen Raum verteilt waren.
Entsprechend waren sie erst davon ausgegangen, Charles Leeds wäre im Zimmer seiner Tochter angefallen und dann ins Schlafzimmer geschleift worden. Eine genauere Untersuchung der Blutflecke stellte diese Annahme jedoch in Frage. Bisher war sich die Polizei jedenfalls über das genaue Vorgehen des Mörders in diesem Raum noch nicht im klaren. Doch Will Graham, dem inzwischen auch der Obduktionsbefund und die Laboranalysen vorlagen, begann allmählich zu begreifen, wie es passiert war.
Der Eindringling schnitt Charles Leeds die Kehle durch, während dieser neben seiner Frau im Bett lag, kehrte dann wieder an die Tür zurück und schaltete das Licht an - auf dem Lichtschalter hatte ein glatter Handschuh Haare und Öl von Mr. Leeds’ Kopf zurückgelassen. Als Mrs. Leeds sich darauf aus dem Bett erhob, schoß der Eindringling auf die Frau, um als nächstes zu den Kinderzimmern weiterzugehen. Mit durchgeschnittener Kehle versuchte Leeds seinen Kindern nun zu Hilfe zu kommen. Die Blutspuren wiesen unmißverständlich auf eine durchtrennte Halsschlagader hin. Der Eindringling stieß ihn jedoch nur beiseite, so daß er zu Boden stürzte und zusammen mit seiner Tochter in deren Zimmer starb. Einer der zwei Jungen wurde im Bett erschossen. Auch der andere Junge wurde in seinem Bett vorgefunden; doch er hatte Staubflusen im Haar, was die Polizei zu der Annahme verleitete, daß er sich erst unter dem Bett zu verstecken versucht hatte, um dann jedoch darunter hervorgezogen und erschossen zu werden.
Als alle, mit Ausnahme vielleicht von Mrs. Leeds, tot waren, machte er sich daran, die Spiegel zu zerschlagen, passende Scherben auszusuchen und sich weiter Mrs. Leeds’ anzunehmen.
Graham hatte die Kopien sämtlicher Autopsiebefunde dabei. In dem von Mrs. Leeds stand, daß die Kugel rechts von ihrem Nabel eingedrungen und in der Wirbelsäule steckengeblieben war; der Tod war jedoch durch Strangulierung eingetreten.
Das erhöhte Auftreten von Serotonin und freien Histamin
schichten in der Schußwunde deutete darauf hin, daß die Frau noch mindestens fünf Minuten gelebt haben mußte, nachdem sie angeschossen worden war. Da der Histaminbestandteil jedoch wesentlich höher als der von Serotonin gewesen war, konnte sie nicht länger als fünfzehn Minuten danach noch gelebt haben. Die meisten ihrer anderen Verletzungen waren ihr vermutlich, aber nicht mit Sicherheit, nach dem Eintreten des Todes zugefügt worden.
Falls ihr die anderen Verletzungen erst nach ihrem Tod beigebracht worden waren, stellte sich jedoch die Frage: Was hatte der Mörder während der Zeit getan, bis Mrs. Leeds gestorben war? Er hatte sich natürlich Leeds vom Hals halten müssen und hatte die anderen umgebracht; aber das dürfte kaum mehr als eine Minute in Anspruch genommen haben. Vielleicht hatte er auch noch die Spiegel zerschlagen. Aber was sonst noch?
Die Mordkommission von Atlanta war sehr gründlich vorgegangen. Sie hatten den Tatort ausführlichst abgemessen und fotografiert, den Boden Stück für Stück abgesucht und gestaubsaugt und sogar die Rückstände
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