Roter Drache
mich keineswegs erwischt.«
»Trotzdem war das nicht der Grund aufzuhören. Plötzlich wollte ich einfach nicht mehr. Allerdings glaube ich nicht, daß ich das erklären kann.«
»Wenn du den Anblick nicht mehr ertragen könntest, ich könnte es, weiß Gott, verstehen.«
»Auch das ist es nicht. Das Hinsehen-Müssen ist immer schlimm, aber solange sie nur tot sind, schafft man das schon irgendwie. Die Krankenhausbesuche, die Gespräche - das ist wesentlich schlimmer. Man muß das von sich abschütteln und den Verstand weiter gebrauchen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich jetzt dazu in der Lage wäre. Ich könnte mich dazu bringen hinzusehen, aber ich würde mein Denken ausschalten.«
»Die sind alle tot, Will«, sagte Crawford so behutsam wie möglich. Jack Crawford hörte den Rhythmus und die Syntax seiner eigenen Sprechweise in Grahams Stimme. Er hatte mehrfach schon die Erfahrung gemacht, daß Graham im Verlauf eines intensiven Gesprächs häufig die Sprechweise seines Gegenübers übernahm. Erst hatte Crawford gedacht, er täte dies absichtlich, als handelte es sich dabei um eine Art Trick, um einen engeren Kontakt mit dem Gesprächspartner herzustellen.
Doch später wurde Crawford bewußt, daß Graham dies unwillkürlich tat und daß er es manchmal sogar zu unterdrücken versuchte, jedoch ohne Erfolg.
Crawford griff in seine Jackentasche, holte zwei Fotos daraus hervor und schob sie mit der Bildseite nach oben über den Tisch.
»Alle tot«, bemerkte er dazu.
Graham starrte Crawford erst einen Moment lang an, bevor er nach den Fotos griff.
Es waren ganz gewöhnliche Schnappschüsse - eine Frau, die, gefolgt von drei Kindern und einer Ente, einen Picknickkorb das Ufer eines Teichs hinauftrug; und eine Familie, die sich um eine Torte gruppiert hatte.
Nach einer halben Minute legte er die Fotos auf den Tisch zurück. Er schob sie behutsam übereinander und ließ seine Blikke dann zum Strand hinunterschweifen, wo der Junge am Boden kauerte und irgend etwas im Sand beobachtete. Die Frau stand daneben und sah ihm dabei zu; eine Hand ruhte auf ihrer Hüfte, und die auslaufenden Wellen umschäumten ihre Fußgelenke. Dann beugte sie sich landwärts, um ihr feuchtes Haar von ihren Schultern zu schütteln.
Ohne seinem Gast die geringste Beachtung zu schenken, betrachtete Graham seine Frau Molly und den Jungen nun ebenso lange, wie er vorher die Fotos angesehen hatte.
Crawford war zufrieden. Mit derselben Sorgfalt, die er auf die Wahl ihres Treffpunkts verwendet hatte, verbot er nun auch seiner Zufriedenheit, sich in seiner Miene widerzuspiegeln. Er glaubte Graham am Haken zu haben. Jetzt galt es nur noch zu warten.
Drei bemerkenswert häßliche Hunde tappten auf sie zu und ließen sich um den Tisch herum zu Boden plumpsen.
»Mein Gott«, entfuhr es Crawford.
»Vermutlich sollen das Hunde sein«, erläuterte Graham. »Ständig setzen die Leute hier junge Hunde aus. Diejenigen, die ganz süß aussehen, kann ich in der Regel weggeben. Die weniger ansehnlichen bleiben uns dann und werden langsam größer.«
»Hunger zu leiden scheinen sie ja zumindest nicht.«
»Molly zieht herrenlose Hunde an wie ein Magnet.«
»Ein schönes Leben hast du hier, Will. Mit Molly und dem Jungen. Wie alt ist er eigentlich?«
»Elf.«
»Ein verdammt gut aussehender Bengel. Er wird sicher mal größer als du.«
Graham nickte. »Sein Vater war es ja auch. Es geht mir wirklich gut hier. Das sage ich mir immer wieder.«
»Ich wollte eigentlich Phyllis mitbringen. Florida. Mich schon mal nach einem schönen Plätzchen umsehen, wenn ich in Pension gehe und endlich mal aufhöre, ein Leben zu führen wie ein Grottenolm. Sie sagt, alle ihre Bekannten leben in Arlington.«
»Ich wollte mich eigentlich schon die ganze Zeit für die Bücher bedanken, die sie mir ins Krankenhaus geschickt hat, aber irgendwie bin ich nie dazu gekommen. Übernimm du das bitte für mich.«
»Ich werd’s ihr ausrichten.«
Zwei kleine bunte Vögel ließen sich in der Hoffnung, ein paar Brösel aufpicken zu können, auf dem Tisch nieder. Crawford beobachtete, wie sie eine Weile darauf herumhüpften und schließlich wieder davonflogen.
»Will, dieser Irre scheint so etwas wie mondsüchtig zu sein. Die Jacobis in Birmingham hat er am achtundzwanzigsten Juni, einem Samstag, bei Vollmond ermordet. Die Familie Leeds in Atlanta vorgestern nacht, am sechsundzwanzigsten Juli. Das ist ein Tag vor dem vollen Ablauf einer Mondphase. Wenn wir also Glück haben, bleiben uns etwas mehr als
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