Roter Engel
Jedenfalls erwartet er, daß ich vorbeikomme. Um dafür zu sorgen, daß alles mit rechten Dingen zugeht.«
Als Toby auflegte, blieben Daniel Slotkins Worte wie eine Drohung in der Luft hängen:
Um dafür zu sorgen, daß alles mit rechten Dingen zugeht.
Und warum sollte sie dafür
nicht
sorgen?
Sie griff nach dem Telefon und hinterließ in der Zentrale der Brant Hill Clinic die Nachricht, daß ihr Patient Harry Slotkin sich im verwirrten Zustand und desortientiert in der Notaufnahme des Springer Hospitals befinde. Dann piepste sie den Röntgenologen im eigenen Hause an.
Nach wenigen Augenblicken meldete er sich mit verschlafener Stimme von daheim. »Hier ist Vince. Haben Sie mich angepiepst?«
»Hier spricht Dr. Harper von der Notaufnahme. Können Sie herkommen? Wir brauchen ein Schädel-CT.«
»Wie heißt der Patient?«
»Harry Slotkin. Sechsundsiebzig Jahre, akuter Verwirrungszustand.«
»In Ordnung. Ich bin in zehn Minuten da.«
Toby legte auf und sah auf ihre Notizen.
Was habe ich übersehen?
fragte sie sich.
Wonach sonst sollte ich noch suchen?
Sie ließ alle möglichen Anlässe für einen plötzlichen Anfall von Demenz Revue passieren. Schlaganfälle. Tumore. Intrakranielle Blutungen. Infektionen.
Sie sah sich noch einmal die vitalen Werte an. Maudeen hatte per Mundmessung eine Temperatur von 37,9 Grad festgestellt.
Kein richtiges Fieber, aber auch nicht ganz normal. Sie würde eine Lumbalpunktion vornehmen müssen – aber nicht, bevor nicht das CT gemacht war. Wäre der Grund eine Raumforderung im Gehirn, könnte eine Lumbaipunktion zu einer katastrophalen Veränderung des Drucks auf das Gehirn führen.
Draußen heulte eine Sirene. Sie schaute auf.
»Und nun?« fragte Maudeen.
Toby sprang auf und stand bereits wartend am Eingang zur Notaufnahme, als die Ambulanz mit einem lauten Heulton vor ihr stoppte. Die Hintertür flog auf.
»Noteinsatz. Lebensbedrohend!« rief der Fahrer.
In höchster Eile zogen sie die Bahre aus dem Wagen. Toby erhaschte einen kurzen Blick auf eine fettleibige Frau mit blassem Gesicht und schlaff herabhängendem Kinn. Sie war bereits intubiert.
»Blutdruck war schon unterwegs nicht mehr meßbar – wir dachten, wir halten mal besser hier, als nach einem Homöopathen zu suchen …«
»Anamnese?« schnappte Toby, die das gar nicht witzig fand.
»Lag am Boden. Hatte vor sechs Wochen einen Myokardinfarkt. Ihr Mann sagt, sie bekommt Digoxin …«
Sie schoben die Patientin hastig in die Notaufnahme. Der Fahrer lief neben der Rollbahre her und bemühte sich unbeholfen um eine Herzmassage. Sie erreichten den Behandlungsraum.
Val schaltete das Licht ein. Die OP-Lampen tauchten den Raum in blendendes Licht.
»Okay, alle fest zupacken. Sie hat ihr Gewicht. Achtet auf den Infusionsschlauch! Eins, zwei, drei,
jetzt!
« rief Maudeen.
Mit gekonntem Griff hatten sich vier Paar Hände unter den Körper der Patientin geschoben und hoben sie nun von der Rollbahre auf den Behandlungstisch. Niemandem mußte man sagen, was zu tun war. Trotz des sichtlich kritischen Zustands der Patientin war Ordnung im Chaos. Der Fahrer machte weiter seine Herzmassage. Sein Kollege preßte ihren Brustkorb, aktivierte die Lungentätigkeit, versorgte sie mit Sauerstoff. Maudeen und Val umrundeten den Tisch, entwirrten die Infusionsschläuche und verbanden die EKG-Kabel mit dem Monitor.
»Wir haben einen Sinusrhythmus«, sagte Toby mit einem Blick auf den Schirm. »Ganz kurz mal keine Herzmassage mehr.«
Der Fahrer stellte seine Bemühungen ein.
»Puls kaum noch spürbar«, sagte Val.
»Infusion höher dosieren«, sagte Toby. »Noch Blutdruck?«
Val schaute von der Manschette hoch. »Fünfzig zu null. Dopamin?«
»Ja. Und weiter mit der Herzmassage.«
Der Fahrer legte die Hände über Kreuz auf das Brustbein und fing wieder an zu pumpen. Maudeen huschte hinüber und holte ein paar Spritzen und Ampullen aus dem Notfallset.
Toby setzte der Frau das Stethoskop auf die Brust und hörte den rechten Lungenflügel ab, danach den linken. Auf beiden Seiten deutliche Atemgeräusche. Der Tubus war also gut gelegt, und die Lungen bekamen Luft. »Herzmassage stopp!« Sie führte das Stethoskop weiter zur Herzgegend.
Man hörte kaum einen Puls.
Wieder schaute sie zum Monitor und sah den Sinusrhythmus schnell über den Bildschirm zittern. Die elektrische Herzaktion war in Ordnung. Warum hatte die Frau keinen Puls? So was kam nur bei einem Schock infolge Blutverlusts vor, aber hier … Toby sah sich den Hals
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