Roter Engel
Konnte hier denn niemand
nachdenken,
bevor man ihm den Schlaf raubte? Wußten die hier denn nicht, daß ein langer Tag im O.P. auf ihn wartete?
Warum sind Chirurgen eigentlich immer solche Widerlinge?
fragte Toby sich und stützte den Kopf auf die Hände. Mein Gott, ging die Nacht denn nie zu Ende? Zwei Stunden Dienst lagen noch vor ihr …
Durch die Müdigkeit, die ihre Gedanken trübten, hörte sie die Tür zur Notaufnahme aufschwingen. »Entschuldigen Sie«, sagte jemand. »Ich komme, um nach meinem Vater zu sehen.«
Toby sah den Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs an.
Schmales Gesicht. Ohne zu lächeln, sah er sie mit fast bitter verzogenem Mund an.
Toby stand auf. »Sind Sie Mr. Slotkin?«
»Ja.«
»Ich bin Dr. Toby Harper.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.
Er schüttelte sie mechanisch und ohne jede Herzlichkeit. Sogar seine Haut fühlte sich kalt an. Obwohl er bestimmt dreißig Jahre jünger war als sein Vater, war die Ähnlichkeit mit Harry Slotkin frappierend. Daniel Slotkins Gesicht war genauso kantig, hatte die gleiche schmale, vorspringende Stirn. Nur seine Augen waren anders. Sie waren klein, dunkel und unfroh.
»Wir sind bei Ihrem Vater noch mit der Auswertung der Befunde beschäftigt«, sagte sie. »Ich habe noch nicht einmal seine Laborwerte zurück.«
Er sah sich in der Notaufnahme um und räusperte sich ungeduldig. »Ich muß um acht wieder in der City sein. Kann ich ihn jetzt sehen?«
»Natürlich.« Sie ging vor ihm her zum Untersuchungszimmer, in dem Harry Slotkin lag, machte die Tür auf und sah, daß niemand da war. »Er dürfte beim Röntgen sein. Ich rufe mal an und frage, ob sie inzwischen fertig sind.«
Slotkin folgte ihr zum Empfangscounter und sah ihr zu, wie sie den Hörer abhob. Sein Blick störte sie. Sie drehte ihm den Rücken zu und wählte.
»Röntgenraum«, meldete sich Vince.
»Hier Dr. Harper. Wie steht es mit dem CT?«
»Wir sind noch nicht soweit. Ich bereite gerade alles vor.«
»Der Sohn des Patienten möchte ihn sehen. Ich schicke ihn gleich rüber.«
»Der Patient ist hier nicht.«
»Wie bitte?«
»Ich habe ihn noch nicht bei mir. Er ist noch in der Notaufnahme.«
»Aber da habe ich doch gerade nachgesehen. Er ist nicht …«
Toby brach ab. Daniel Slotkin hörte zu, und er hatte die Bestürzung in ihrer Stimme mitbekommen.
»Gibt es ein Problem?« fragte Vince.
»Nein. Nein, keines.« Toby legte auf und sah Slotkin an. »Entschuldigen Sie mich«, sagte sie und lief durch den Gang zum Untersuchungsraum 3 und machte die Tür auf. Aber da war kein Harry Slotkin. Die Bahre war allerdings da, und das Tuch, mit dem sie ihn zugedeckt hatten, lag zerknüllt auf dem Boden.
Jemand mußte ihn auf einer anderen Rollbahre hinausgefahren und in einen anderen Raum geschafft haben.
Toby ging in den Untersuchungsraum 4 gegenüber und schob den Vorhang zur Seite.
Kein Harry Slotkin.
Sie spürte ihr Herz klopfen, als sie den Gang weiter zum Untersuchungsraum 2 ging. Das Licht war nicht eingeschaltet. Niemand hätte den Patienten in ein unbeleuchtetes Zimmer geschoben. Trotzdem schaltete sie das Licht ein.
Nur wieder eine leere Rollbahre.
»Wißt ihr hier nicht, wo ihr meinen Vater abgestellt habt?« sagte Daniel Slotkin bissig. Er war ihr durch den Gang gefolgt.
Sie ignorierte seine Frage bewußt, trat in das Zimmer und zog den Vorhang mit einem Ruck hinter sich zu. »Wo ist Mr. Slotkin?« fragte Toby die Schwestern im Flüsterton.
»Der alte Knabe?« fragte Maudeen. »Hat Vince ihn denn nicht zum Röntgen geholt?«
»Er sagt, er sei nie bei ihm angekommen. Aber ich finde den Mann nicht. Und draußen vor der Tür steht sein Sohn.«
»Haben Sie in Raum 3 nachgesehen?«
»Ich war in
allen
Zimmern!«
Maudeen und Val sahen einander an.
»Sehen wir uns mal in den Gängen um«, sagte Maudeen. Sie eilte mit Val auf den Flur.
Toby mußte sich wieder mit dem Sohn befassen. Allein.
»Wo ist er?« wollte er wissen.
»Wir versuchen, ihn ausfindig zu machen.«
»Es hieß doch, er ist in Ihrer Notaufnahme.«
»Da muß irgend etwas durcheinandergebracht worden sein …«
»Ist er nun hier oder nicht?«
»Mr. Slotkin, wie wäre es, wenn Sie kurz im Warteraum Platz nehmen würden? Ich bringe Ihnen eine Tasse Kaffee …«
»Ich will keinen Kaffee. Mein Vater hat gesundheitliche Schwierigkeiten. Und jetzt können Sie ihn nicht finden?«
»Die Schwestern sind auf dem Weg zum Röntgenraum.«
»Ich denke, dort haben Sie gerade angerufen!«
»Bitte, nehmen
Weitere Kostenlose Bücher