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Roter Engel

Roter Engel

Titel: Roter Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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schnellte zum Monitor. Aus dem Rhythmus war das schnell jagende Muster einer Tachykardie geworden. Das Herz arbeitete nur noch halb und schlug zu schnell, um noch irgend etwas zu bewirken.
    »Den Defibrillator!« rief Toby hastig. »Wir gehen auf dreihundert.«
    Maudeen schaltete den Defibrillator ein. Die Anzeigenadel kletterte auf dreihundert Joule.
    Toby plazierte die beiden Platten auf der Brust der Patientin.
    Die Gelschicht garantierte den ordentlichen elektrischen Kontakt zur Haut. Sie schob die Platten zurecht. »Zurück!« rief sie und drückte den Auslöseknopf.
    Die Patientin bäumte sich auf, und sämtliche Muskeln kontrahierten, als der Stromstoß durch ihren Körper fuhr.
    Toby sah auf den Monitor. »Okay, wir haben wieder einen Sinus …«
    »Keinen Puls. Ich habe keinen Puls«, sagte Val.
    »Weiter mit der Herzmassage«, sagte Toby. »Eine neue Spritze!«
    Schon als sie die Hülle aufriß und die Spritze auf die Nadel aufsetzte, wußte sie, daß sie den Kampf verlieren würde. Sie könnte noch literweise Blut absaugen, es würde immer welches nachfließen und auf das Herz drücken.
Halt sie nur so lange am Leben, bis der Chirurg da ist,
dachte sie. Die Worte wiederholte sie immer wieder wie ein Mantra.
Halt sie am Leben. Halt sie am Leben …
    »Wieder Kammerflimmern!« sagte Val.
    »Auf dreihundert. Lidocain, die komplette Dosis.«
    Das Wandtelefon läutete. Maudeen nahm den Hörer ab. Gleich darauf rief sie: »Arlo hat ein Problem bei der Kreuzprobe mit dem Blut, das ich raufgeschickt habe. Die Patientin hat B negativ.«
    Mist. Was wohl noch alles auf sie zukam?
Toby legte die Platten auf die Brust. »Alles zurück!«
    Wieder bäumte die Frau sich auf. Wieder ein sehr schneller Sinus.
    »Hat wieder Puls«, sagte Val.
    »Und jetzt das Lidocain. Wo ist das frische Plasma?«
    »Arlo ist unterwegs«, sagte Maudeen.
    Toby sah auf die Uhr. Seit knapp zwanzig Minuten hatten sie die Patientin hier jetzt auf dem Tisch. Ihr kam es wie Stunden vor. Bei dem Chaos rundherum, dem läutenden Telefon, den Leuten, die alle gleichzeitig redeten, fühlte sie sich plötzlich desorientiert. Die Hände fingen in den Handschuhen an zu schwitzen und klebten am Gummi. Der Fall geriet ihr außer Kontrolle …
    Kontrolle
war das Wort, das Tobys Leben bestimmte. Das war schließlich ihr Ziel: ihr Leben in Ordnung zu halten, die Notaufnahme in Ordnung zu halten. Und jetzt hatte sie diesen Notfall nicht mehr im Griff, und sie konnte nichts mehr tun.
    Sie hatte nicht gelernt, wie man den Brustraum öffnet und eine Herzkammer näht.
    Sie schaute das Gesicht der Frau an. Es war fleckig. Die schlaffen Wangen wurden rot. Schon beim Hinsehen wußte sie, die Gehirnzellen wurden nicht mehr versorgt. Starben ab.
    Der Fahrer tauschte erschöpft den Platz mit seinem Kollegen.
    Zwei ausgeruhte Hände pumpten weiter. Über dem Monitor lief nur noch eine wilde Zackenlinie. Kammerflimmern. Das konnte nur noch schlimm enden.
    Das Team tat, was zu tun war. Antiarrhythmika-Dosis erhöhen. Bretylium. Immer stärkere Stromstöße aus dem Defibrillator. Verzweifelt zog Toby noch einmal fünfzig Kubik Blut aus dem Herzbeutel.
    Auf dem Monitor wurde der Herzrhythmus zu einer mäandernden Linie.
    Toby sah in die Gesichter der anderen. Sie wußten alle, es war vorbei.
    »In Ordnung.« Toby atmete tief aus. Ihre Stimme klang erschreckend ruhig. »Das war’s. Wie spät ist es?«
    »Elf nach sechs«, sagte Maudeen.
    Fünfundvierzig Minuten haben wir sie am Leben gehalten, dachte Toby. Das Beste, was wir tun konnten. Alle hatten ihr Bestes getan.
    Der Sanitäter trat einen Schritt zurück und die anderen mit ihm. Es war fast ein Reflex, dieser physische Rückzug, diese paar Sekunden respektvollen Schweigens.
    Die Tür schwang auf, und Dr. Carey, der Thorax-Experte, hatte seinen üblichen dramatischen Auftritt. »Wo ist die Tamponade?« bellte er.
    »Exitus«, sagte Toby.
    »Wie bitte? Haben Sie sie denn nicht stabilisiert?«
    »Das haben wir versucht. Wir haben es nicht geschafft.«
    »Und wie lange haben Sie sie reanimiert?«
    »Glauben Sie mir«, sagte Toby. »Lange genug.« Sie rauschte an ihm vorbei nach draußen.
    Am Schwesterntisch nahm sie einen Moment Platz, um sich zu sammeln, bevor sie das Protokoll ausfüllte. Aus dem Traumazimmer hörte sie Dr. Careys Stimme. Er beschwerte sich lautstark. Da scheuchten sie ihn also morgens um halb sechs aus dem Bett, und wozu? Daß er sich um eine Patientin kümmerte, die sie nicht einmal stabilisieren konnten?

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