Roter Engel
genauer an, und sofort wußte sie die Antwort. Die Fettleibigkeit der Frau hatte dafür gesorgt, daß man nicht sehen konnte, wie stark ihre Halsvenen geschwollen waren.
»Sie sagen, sie hatte vor sechs Wochen einen Myokardinfarkt?« fragte Toby.
»Genau«, brummte der Fahrer und begann wieder mit der Herzmassage. »Das hat ihr Mann gesagt.«
»Und weitere Medikamente außer dem Digoxin?«
»Auf ihrem Nachtschränkchen stand eine große Flasche mit Aspirintabletten. Wahrscheinlich hat sie Arthritis.«
Das ist es,
dachte Toby. »Maudeen, bitte eine Fünfzig-Kubikzentimeter-Aufziehspritze und eine Herzkanüle.«
»Alles da.«
»Und werfen Sie mir ein paar Handschuhe und Alkoholtupfer rüber!«
Das Päckchen kam geflogen. Toby fing es in der Luft und riß es auf. »Keine Herzmassage mehr«, ordnete sie an.
Der Fahrer trat einen Schritt zurück.
Toby desinfizierte die Hautoberfläche, zog die Handschuhe an und griff nach der Spritze. Ein letzter Blick auf den Monitor.
Noch immer beschleunigter Sinusrhythmus. Sie holte tief Luft.
»Okay, schaun wir mal, ob das hilft …« Den hervorstehenden Schwertfortsatz des Brustbeins als Orientierungspunkt nehmend, stach sie in die Haut ein und führte die Kanüle in Richtung Herz. Ihr Puls hämmerte, als die Spitze langsam eindrang. Gleichzeitig zog sie den Kolben zurück und sorgte für negativen Druck. Ein Schwall Blut schoß in die Spritze.
Sie hielt sofort an. Ihre Hände waren absolut ruhig.
Bitte, lieber Gott, laß sie an der richtigen Stelle sein.
Sie zog den Kolben weiter zurück und saugte langsam Blut hoch. Zwanzig Kubikzentimeter. Dreißig. Fünfunddreißig …
»Blutdruck?« rief sie und hörte, wie die Manschette schnell aufgepumpt wurde.
»Ja! Ich haben einen!« sagte Val. »Achtzig zu fünfzig!«
»Ich glaube, ich weiß, was wir jetzt brauchen«, sagte Toby.
»Einen Chirurgen. Maudeen, rufen Sie Dr. Carey an. Sagen Sie ihm, wir haben eine perikardiale Tamponade.«
»Wegen des Infarkts?« fragte der Ambulanzfahrer.
»Und wegen der hohen Dosis Aspirin. Daher die starke Blutung. Wahrscheinlich hat sie einen Riß im Herzmuskel.« Mit dem vielen Blut draußen im Herzbeutel konnte das Herz sich nicht mehr ausdehnen. Und damit nicht mehr pumpen. Die Spritze war voll. Toby zog die Kanüle heraus.
»Druck ist jetzt auf fünfundneunzig«, sagte Val.
Maudeen hängte das Wandtelefon ein. »Dr. Carey ist unterwegs. Und sein Team auch. Er sagt, sie soll stabilisiert werden.«
»Leichter gesagt als getan«, brummte Toby und fühlte den Puls. Sie spürte ihn, wenn auch sehr schwach. »Wahrscheinlich reakkumuliert sie. Ganz schnell eine neue Spritze und eine Kanüle. Können wir ihre Blutgruppe bestimmen, mit Kreuzprobe? Und gleichzeitig auch Blutbild und Elektrolytwerte.«
Maudeen holte eine Handvoll Röhrchen heraus. »Acht Stück?«
»Wenigstens. Wenn es geht, holen wir das ganze Blut heraus. Und lassen Sie Frischplasma aus der Kühlung kommen.«
»Blutdruck fällt auf fünfundachtzig«, sagte Val.
»Mist. Wir müssen wieder ran.«
Toby riß ein Päckchen neuer Spritzen auf und warf die Hülle weg. Wie bei jedem Notfall sammelte sich der Abfall aus Papier und Plastik am Boden.
Wie oft muß ich das jetzt noch machen?
fragte sie sich, während sie die Nadel aufsetzte.
Mach, daß du mit deinem Hintern bald da bist, Carey. Ich kann dieser Frau allein nicht das Leben retten …
Dabei war Toby keineswegs sicher, ob Dr. Carey das konnte.
Wenn die Frau tatsächlich ein Loch in der Herzwand hatte, dann brauchte sie mehr als einen Thorax-Spezialisten – dann brauchte sie ein komplettes Bypass-Team. Das Springer Hospital war ein kleines Vorstadtkrankenhaus und perfekt auf Dinge wie einen Kaiserschnitt und die Entfernung der Gallenblase eingerichtet, aber größere chirurgische Eingriffe waren hier nicht vorgesehen. Die Ambulanzen kamen mit schweren Fällen normalerweise nicht zum Springer Hospital, sondern fuhren direkt in größere Häuser wie Brigham oder Mass General.
Doch heute morgen hatten sie nichtsahnend Toby einen schweren Fall für die Chirurgie direkt auf den Tisch gelegt. Und sie hatte keinerlei Erfahrung – genausowenig der übrige Stab –, wie sie dieser Frau das Leben retten sollten.
Die zweite Spritze war jetzt auch mit Blut angefüllt. Noch einmal fünfzig Kubik – und keine Gerinnung.
»Blutdruck geht wieder runter«, sagte Val. »Achtzig …«
»Doc, jetzt haben wir Kammerflimmern!« unterbrach sie einer der Sanitäter.
Tobys Blick
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