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Roter Engel

Roter Engel

Titel: Roter Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Sie einen Augenblick Platz im Wartezimmer, und wir finden inzwischen heraus, was wirklich …« Tobys Stimme wurde schriller, als sie die beiden Schwestern auf sie zueilen sah.
    »Wir haben Morty angerufen«, sagte Val. »Er sieht mit Arlo auf dem Parkplatz nach.«
    »Ihr habt ihn also nicht gefunden!«
    »Weit kann er nicht sein.«
    Toby spürte, wie sie blaß wurde. Sie fürchtete, Slotkin in die Augen zu sehen, von ihm gemustert zu werden. Aber da wandte er sich schon in seinem ärgerlichen Tonfall an sie.
    »Was geht hier eigentlich vor?« fragte er. Die beiden Schwestern sagten nichts. Sie sahen Toby an.
    Beide wußten schließlich, daß die Frau Doktor hier es war, die in der Notaufnahme den Kapitän abgab. Sie war es, auf deren Schultern letztlich die Verantwortung ruhte. Und die Schuld.
    »Wo ist mein Vater?«
    Toby wandte sich langsam zu Daniel Slotkin um. Ihre Antwort war nur noch ein Flüstern. »Ich weiß es nicht.«
    Es war dunkel, und seine Füße taten ihm weh. Er wußte, er mußte heim. Das Dumme war nur, er wußte nicht,
wie
er heimfinden könnte. Harry Slotkin wußte nicht einmal, wie er in diese einsame Straße gekommen war, durch die er stolperte. Ob er unterwegs in einem der Häuser hier läuten und um Hilfe bitten sollte? Aber alle Fenster, an denen er vorbeikam, waren dunkel.
    Würde er irgendwo anklopfen und um Hilfe bitten, dann würde es Fragen geben, Licht würde angehen, und bestimmt würde man ihn demütigen. Harry war ein stolzer Mann. Er war keiner, der irgendwen so schnell um Hilfe bat. Genausowenig half er freiwillig anderen Menschen – nicht mal seinem eigenen Sohn. Er hatte immer gewußt: Nächstenliebe lähmt einen auf die Dauer. Und er hatte nie gewollt, daß aus ihm mal ein Krüppel würde.
Stärke bedeutet Unabhängigkeit. Unabhängigkeit bedeutet Stärke.
    Irgendwie würde er schon nach Hause finden.
    Wenn nur der Engel wieder erscheinen würde. Sie war zu ihm gekommen an diesen Ort des Schreckens, wo man ihn auf einen kalten Tisch gelegt und mit hellen Lampen geblendet hatte. Wo Fremde an ihm mit Nadeln herumgestochert und neugierige Finger ihn untersucht hatten. Dann war der Engel erschienen. Sie hatte ihm nicht weh getan. Vielmehr hatte sie gelächelt, als sie ihm die Hände und Füße losband, und geflüstert: »Lauf, Harry! Bevor sie wieder herkommen.«
    Jetzt war er frei. Ihm war die Flucht gelungen, und das war gut! Er ging weiter diese Straße mit ihren düsteren, schweigenden Häusern hinunter und suchte nach etwas, das er kannte. Etwas, das ihm sagte, wo er war.
    Ich muß im Kreis gelaufen sein,
dachte er.
Hinausgegangen sein und mich verirrt haben.
    Plötzlich fuhr ihm ein Schmerz in die Füße. Er sah nach unten und blieb verwundert stehen.
    Im Licht der Straßenlaterne sah er, daß er keine Schuhe anhatte.
    Auch keine Socken. Er starrte auf seine nackten Füße. Seine bloßen Beine. Seinen Penis, der schrumpelig und erbärmlich zwischen seinen Beinen baumelte.
    Ich habe überhaupt nichts an!
    Panisch schaute er sich um, ob jemand ihn so sah. Die Straße lag ausgestorben.
    Er hielt die Hände schützend über sein Genital, floh aus dem Licht der Lampe und suchte Schutz in der Dunkelheit. Wann hatte er denn seine Kleider verloren? Er erinnerte sich nicht. Er hockte sich auf den kühlen, kurzgeschnittenen Rasen vor einem Haus und dachte angestrengt nach. Aber die Panik überwucherte jetzt alles, was er an Erinnerungen an die Nacht zuvor noch hatte. Er fing an zu wimmern, stieß kleine Seufzer aus und schaukelte auf seinen nackten Füßen vor und zurück.
    Ich möchte nach Hause. O bitte, bitte, wenn ich doch jetzt in meinem eigenen Bett aufwachen könnte …
Er zog sich in sich zusammen und war so verzweifelt, daß er die Scheinwerfer gar nicht bemerkte, die weiter hinten um die Ecke kamen. Erst als der Van direkt neben ihm stoppte, wurde Harry klar, daß man ihn entdeckt hatte.
    Er schlang die Arme noch enger um seinen Körper, rollte sich zitternd in seinen Armen zusammen.
    Leise rief ihn eine Stimme durch die Dunkelheit. »Harry?«
    Er hob den Kopf nicht. Er fürchtete sich davor, aufzustehen und seinen beschämend nackten Zustand zu offenbaren. Statt dessen versuchte er, sich noch mehr zu einem engen Bündel zusammenzuziehen.
    »Harry, ich bin hier, dich heimzuholen.«
    Langsam hob er den Kopf. Das Gesicht des Fahrers oder der Fahrerin konnte er nicht erkennen, aber die Stimme kannte er schon. Oder er glaubte es zumindest.
    »Steig ein, Harry.«
    Er schwankte auf

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