Roter Engel
leichter Tremor auffällig. Zere-bellärer Befundpositiv. Keine weiteren Lokalisierungen.
Dauernde Verlegung eingeleitet.
Die Eintragung war nicht gezeichnet.
Toby hatte Mühe, das, was sie da las, auch richtig zu verstehen.
Ihre Kopfschmerzen machten jeden Buchstaben zur Qual. Was bedeutete dieser letzte Satz? »Dauernde Verlegung eingeleitet.«
Sie las die Eintragung vom 3. November:
Patient gehunfähig ohne fremde Hilfe. EEG ohne spezifische Ergebnisse, Tremor stärker, zerebellärer Befund eindeutiger. CT zeigt vergrößerte Hypophyse, keine akuten Veränderungen.
4. November:
Zweimal desorientiert. Vorübergehende Myoklonie. Zerebelläre Funktion läßt weiterhin nach. Laborwerte bleiben normal.
Dann der letzte Eintrag, 7. November:
Patient muß angeschnallt werden. Blasen- und Darminkontinenz. I.v.-Ernährung und Sedierung rund um die Uhr. Endstadium. Autopsie zwingend.
Sie legte das Krankenblatt auf die nackten Schenkel des Mannes. Einen Moment lang betrachtete sie die Leiche mit klinisch distanziertem Blick, nahm die graue Brust-behaarung zur Kenntnis, die Bauchfalten, den schlaffen Penis in seinem Haarbüschel. Hatte er von den Risiken seiner Behandlung gewußt? War ihm aufgegangen, daß der Wunsch nach ewigem Leben nicht kostenlos zu erfüllen war?
Die Alten leben von den Jungen.
Sie taumelte gegen den Tisch, und ihr Blick verschwamm vor lauter Schmerzen. Sie brauchte einige Augenblicke, bis sie wieder richtig sehen konnte. Was war mit der anderen Leiche? Toby zog das Leichentuch weg. Ihre jahrelange Praxis in der Notaufnahme hatte sie zwar abgehärtet, aber auf den schrecklichen Anblick, der sich ihr da auf dem Tisch bot, war sie nicht gefaßt.
Die männliche Leiche war von der Brust über den Bauch bis zu den Leisten säuberlich aufgeschnitten, aufgeklappt und total ausgeweidet worden. Die Organe lagen zwar wieder in einem Klumpen in der Höhle zusammen, doch wer immer den Leichnam obduziert hatte, er hatte die Organe herausgenommen und dann wieder ohne jede Rücksicht auf die menschliche Anatomie zurückgelegt.
Sie wich zurück. Übelkeit stieg in ihr hoch. Dem Geruch nach zu schließen, war dieser Mann schon um einiges länger tot als der erste.
Sie zwang sich, näher an den Tisch zu treten und nach dem Plastikschild an seinem Fußgelenk zu sehen. Mit schwarzem Markerstift stand dort
Philipp Dorr.
Einen Autopsiebericht oder ein Krankenblatt des Toten gab es nicht.
Sie riß sich zusammen und betrachtete sein Gesicht. Es war wieder ein älterer Mann. Die Augenbrauen waren graumeliert, das Gesicht seltsam zusammengefallen wie eine Gummimaske.
Erst jetzt fiel ihr auf, daß man auch seine Kopfschwarte hinter den Ohren aufgeschnitten hatte. Sie hing seitlich herunter, und man erkannte den perlmuttfarbenen Schädelknochen. Vorsichtig faßte sie das Haar und zog den Skalp hoch.
Da löste sich die ganze Schädelplatte und fiel scheppernd auf den Boden.
Toby schrie auf und machte einen Satz rückwärts.
Der Schädel klaffte offen vor ihr wie eine leere Schale. Er enthielt nichts. Das Gehirn war entfernt worden.
20
»Sie kommt«, sagte Dvorak zu Alpren, der ungeduldig mit dem Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte trommelte. »Nur Geduld.«
Detective Alpren sah auf die Uhr. »Ich warte jetzt schon zwei Stunden. Sie hat Sie geleimt, Doc. Ich glaube, Sie hätten es ihr nicht erzählen sollen.«
»Und Sie sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen. Dieser Haftbefehl ist verfrüht. Sie haben ja nicht einmal die vorläufigen Ermittlungen abgeschlossen.«
»Aha, ich soll also meine Zeit damit vergeuden, daß ich die
echte
Jane Nolan suche, ja? Lieber nehme ich die
echte
Dr. Harper in Gewahrsam. Wenn wir sie denn im Augenblick finden.«
»Geben Sie ihr die Chance, aus freien Stücken herzukommen. Vielleicht wartet sie noch auf ihren Anwalt. Vielleicht ist sie auch erst nach Hause gefahren, um einige Unterlagen zusammenzustellen.«
»Nach Hause ist sie nicht gefahren. Vor einer halben Stunde haben wir einen Streifenwagen hingeschickt. Ich glaube, Dr. Harper hat Gas gegeben und die Stadt fluchtartig verlassen. Sie ist jetzt bestimmt schon hundert Meilen weiter und überlegt sich gerade, wie sie ihren Wagen am besten verschwinden läßt.«
Dvorak starrte zur Wanduhr. Toby auf der Flucht – das konnte er sich nicht vorstellen. Sie sah nicht aus wie eine Frau, die wegrannte, sondern wie eine, die sich umdrehen und kämpfen würde. Was ihm im Moment blieb, war sein Instinkt. Auf den mußte er
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