Roter Engel
Angriffs warf sie um. Instinktiv riß sie die Hände hoch und hielt sie schützend vor ihre Kehle. Der Hund verbiß sich in ihren Unterarm, die Zähne drangen durch bis auf den Knochen. Sie schrie und schlug nach ihm, aber der Dobermann ließ nicht locker. Er fing an, seinen Kopf vor- und zurückzustoßen, und seine Zähne rissen ihr Fleisch auf. Blind vor Schmerz packte sie den Hund mit der freien Hand an der Kehle und wollte ihn würgen, damit er losließ, aber seine Zähne schienen mit ihrem Arm verwachsen. Erst als sie mit den Fingern nach seinen Augen stach, jaulte der Hund auf und gab sie frei.
Sie rollte weg, rappelte sich auf, und das Blut rann ihr den Arm herab. Sie lief zum Wagen.
Der Dobermann setzte erneut zum Sprung an.
Er prallte von hinten gegen sie, und sie fiel auf die Knie. Diesmal bekam er nur ihre Bluse zu fassen. Seine Zähne zerrissen den Stoff. Sie schüttelte das Tier ab und hörte es gegen den Saab krachen. Zu schnell war der Dobermann wieder auf den Beinen und nahm den nächsten Anlauf.
»
Platz!
« rief ein Mann.
Toby kam schwankend auf die Füße, schaffte es aber nicht mehr in den sicheren Wagen. Diesmal faßten zwei Hände nach ihren Schultern und stießen sie, das Gesicht nach unten, gegen die Motorhaube des Saab.
Der Dobermann bellte wütend und wollte sein Opfer.
Toby drehte und wand sich. Das letzte, was sie sah, war der Strahl der Taschenlampe, der durch die Nacht schwenkte.
Dann traf sie ein Schlag auf die Schläfe. Sie taumelte zur Seite und fiel. Ihr wurde schwarz vor Augen.
Kalt. Es war sehr kalt.
Als tauche sie aus eiskaltem Wasser auf, kam sie langsam wieder zu Bewußtsein. Zuerst konnte sie ihre Arme und Beine überhaupt nicht spüren, wo und ob sie überhaupt noch an ihr waren.
Mit metallischem Echo fiel eine Tür zu. In Tobys Kopf begann es zu klingeln. Sie stöhnte und drehte sich auf die Seite. Der Boden war eiskalt. Zitternd zog sie sich zusammen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen und Arme und Beine zu bewegen. Der eine Arm schmerzte, und dieser Schmerz bohrte sich durch ihre Benommenheit. Sie öffnete die Augen und mußte zwinkern. Licht blendete sie.
Ihre Bluse war blutig. Der Anblick machte sie wieder hellwach.
Der zerrissene Ärmel war blutgetränkt. Der Dobermann.
Mit der Erinnerung an seine Kiefer kam der Schmerz voll zurück, voll solcher Intensität, daß sie fast wieder bewußtlos wurde. Sie kämpfte dagegen an, setzte sich auf und stieß dabei gegen ein Tischbein. Etwas über ihr kam ins Rutschen und pendelte langsam vor ihrem Kopf hin und her. Sie sah hoch. Ein nackter Arm hing über die Tischkante. Die Finger baumelten direkt vor ihrem Gesicht.
Sie rang nach Luft, rollte sich auf die Seite und kam auf die Knie. Binnen Sekunden war Ihre Benommenheit verschwunden, denn schockartig wurde ihr bewußt, was sie da sah.
Auf dem Tisch lag eine mit einer Plastikplane zugedeckte Leiche. Nur der Arm war zu sehen. Im fluoreszierenden Licht schimmerte die Haut bläulich-weiß.
Toby kam auf die Füße. Ihr war noch immer schwindelig, und sie mußte sich an etwas festhalten. Sie sah noch einmal nach der Leiche und bemerkte dabei, daß im Raum noch ein Tisch stand und auch auf ihm etwas lag, das mit Plastik abgedeckt war. Ein Ventilator blies einen Schwall kalter Luft durch den Raum.
Langsam wurde ihr klar, wo sie sich befand – die fensterlosen Wände, die schwere Stahltür sagten es ihr. Auch der faulige Geruch ließen ihr keine Zweifel mehr: ein Kühlraum zur Lagerung von Leichen.
Den entsetzten Blick fest auf den baumelnden Arm gerichtet, ging sie zum Tisch und zog die Abdeckung zur Seite.
Es war ein älterer Mann mit dunkelbraunem, an den Wurzeln grauem Haar. Schlecht gefärbt. Die Lider standen offen. Leblose blaue Augen starrten ins Weite. Sie zog die Abdeckung ganz weg. Der nackte Körper wies nirgends sichtbare Verletzungen auf. Nur am Arm waren einige Blutergüsse zu sehen, und die erkannte Toby sofort als Einstichstellen für eine intravenöse Versorgung. Am Fuß hing ein gelbes Faltblatt, auf dem der Name der Leiche stand: James R. Bigelow. Sie klappte das Faltblatt auf und sah, daß es das Krankenblatt der letzten Lebenswoche des Mannes war.
Die erste Eintragung datierte vom 1. November:
Patient verhält sich beim Frühstück unbeholfen – gießt Milch auf den Teller statt in die Tasse –, reagiert konfus auf die Frage, ob er Hilfe braucht. Wird zur weiteren Beobachtung in die Klinik überführt.
Bei der Untersuchung
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