Roter Engel
hatte.
Sieben Uhr. Ihre Schicht war zu Ende.
Sie fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock und ging in die Intensivabteilung. Im Beobachtungszimmer flimmerten sieben EKG-Anzeigen über die Monitore. Davor saß eine Schwester und starrte wie hypnotisiert darauf.
»Wo liegt Mr. Parmenter?« fragte Toby.
Die Schwester schien sich aus einer Trance herausholen zu müssen. »Parmenter? Den Namen kenne ich nicht.«
»Er ist letzte Nacht von Zwei West hierherverlegt worden.«
»Zu uns ist niemand verlegt worden. Wir haben von Ihnen aus der Notaufnahme diesen Infarkt bekommen …«
»Nein, Parmenter war da schon in der Stabilisierungsphase.«
»Ach ja, ich erinnere mich. Die Verlegung wurde rückgängig gemacht.«
»Warum?«
»Da müssen Sie in Zwei West nachfragen.«
Toby lief die Treppe in den zweiten Stock hinunter. Die Station war verlassen, und das Telefon blinkte vergebens. Sie trat zum Schrank mit der Hängekartei und ging die Namen durch. Kein Parmenter. Mit wachsendem Grimm ging sie den Gang hinauf zu den Krankenzimmern und stieß die Tür zu Parmenters Zimmer auf.
Was sie sah, ließ sie erstarren.
Durch das Fenster fiel hart die Morgensonne direkt auf das Bett, in dem Angus Parmenter lag. Seine Augen standen halb offen. Das Gesicht war bläulich-weiß, das Kinn hing auf die Brust herab. Alle Verbindungen zum Monitor und der Tropf waren abgeklemmt. Der Mann war ganz offensichtlich tot.
Sie hörte eine Tür aufgehen, sah sich um und sah aus dem Zimmer gegenüber eine Schwester mit einem Medikamentenwagen kommen. »Was ist passiert?« fragte Toby sie. »Wann war der Exitus?«
»Vor ungefähr einer Stunde.«
»Warum hat man mich nicht zur Notversorgung gerufen?«
»Dr. Wallenberg war hier auf der Station. Er hat sich gegen eine Notversorgung entschieden.«
»Ich habe gedacht, der Patient würde auf die Intensivstation verlegt.«
»Das haben sie wieder rückgängig gemacht. Dr. Wallenberg hat die Tochter angerufen, und sie sind beide übereingekommen, daß das keinen Zweck mehr hatte. Auch nicht mehr, ihn an die Maschinen zu hängen. Sie haben ihn sterben lassen.«
Das war eine Entscheidung, gegen die Toby nichts einwenden konnte. Angus Parmenter war zweiundachtzig gewesen und seit einer Woche komatös mit wenig Hoffnung auf Besserung.
Ihr blieb nur noch eine Frage: »Hat die Familie die Zustimmung für eine Autopsie gegeben?«
Die Schwester sah von ihrem Wagen hoch. »Es wird keine gemacht.«
»Aber es muß eine Autopsie geben.«
»Die Bestattungsvorbereitungen sind schon erledigt, das Unternehmen holt die Leiche in Kürze ab.«
»Wo ist das Krankenblatt?«
»Es ist schon aus der Kartei entnommen. Wir warten nur noch auf Dr. Wallenberg zur Ausfüllung des Totenscheins.«
»Er ist also noch hier im Krankenhaus?«
»Ich glaube schon. Er ist zu einem Konsilium in der Chirurgie.«
Toby ging auf direktem Weg ins Stationszimmer. Die Karteiführerin war nicht an ihrem Schreibtisch, hatte die losen Blätter von Mr. Parmenters Akte aber auf dem Tisch liegengelassen.
Toby überflog schnell die neuesten Vermerke und Dr. Wallenbergs letzte Eintragung.
Familie benachrichtigt. Respirationsmaßnahmen abgebrochen – Schwestern können keinen Puls mehr feststellen. Auskultation bringt keine Herztöne mehr. Pupillen unbeweglich. Festgestellte Todeszeit 5.58 Uhr.
Von einer Autopsie war nicht die Rede, auch nicht von einer auslösenden Krankheit.
Das Quietschen von Rädern ließ sie aufhorchen. Zwei Krankenhausbedienstete schoben eine Rollbahre aus dem Fahrstuhl. Sie rollten sie in Richtung Zimmer 341.
»Warten Sie«, sagte Toby. »Kommen Sie wegen Mr. Parmenter?«
»Ja.«
»Stop. Er wird
nirgendwohin
gebracht.«
»Der Leichenwagen ist schon hierher unterwegs.«
»Die Leiche bleibt, wo sie ist. Ich muß mich mit den Angehörigen in Verbindung setzen.«
»Aber …«
»
Warten
Sie einfach.« Toby griff zum Telefon und piepste Dr. Wallenberg an. Er meldete sich nicht zurück. Die beiden Gehilfen standen wartend im Flur, sahen sich an und zuckten mit den Schultern. Sie hob den Hörer erneut ab und wählte nun die Nummer von Mr. Parmenters Tochter, die auf dem Blatt verzeichnet war. Sechsmal ließ sie es läuten. Inzwischen war sie mehr als frustriert, und dazu sah sie noch, wie die beiden Gehilfen trotzdem die Bahre in Mr. Parmenters Krankenzimmer schoben.
Sie lief hinter ihnen her. »Ich habe Ihnen gesagt, der Patient
bleibt hier.
«
»Ma’am, wir haben die Anordnung, ihn abzuholen und nach unten zu
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