Roter Engel
wäre. Vor allem dann, wenn andere Menschen direkt gefährdet sind.«
»Sie erwähnten zwei Patienten?«
»Ja. Den ersten brachte uns die Ambulanz vor drei Wochen ins Haus.«
»Dann müßte Ihnen die Autopsie des ersten Patienten die notwendigen Antworten geliefert haben.«
»Die hat es nie gegeben. Der Patient ist aus dem Hospital verschwunden. Seine Leiche ist nie gefunden worden.«
Ihr Gegenüber schwieg wieder, und das gab ihr Gelegenheit, tief durchzuatmen. Als er weitersprach, konnte sie untergründig hören, daß inzwischen sein Interesse geweckt war. »Sie sagten Sie sind vom Springer Hospital? Wie heißt der Patient?«
»Angus Parmenter.«
»Und seine Leiche ist noch bei Ihnen?«
»Ich sorge dafür, daß sie das bleibt«, sagte sie.
Sie rannte über vier Stockwerke die Treppen hinunter, bis sie im Untergeschoß war. Eine Neonröhre an der Decke des Gangs flackerte wie eine Signallampe. Ihre Beine zitterten. Sie rannte weiter bis zu einer Tür, auf der
Zutritt nur für befugte Personen
stand. Sie betrat das Leichenschauhaus.
Das Licht war eingeschaltet. Auf dem Schreibtisch des Diensthabenden lief ein Radio. Aber zu sehen war niemand im Vorraum.
Toby ging weiter in den Autopsieraum. Der Seziertisch aus Edelstahl war leer. Nebenan sah sie den Kühlraum mit den Schubfächern, in denen die noch zu sezierenden Leichen lagen.
Ein kühler, leichte Übelkeit erregender Geruch wehte ihr entgegen. Der Geruch von totem Fleisch. Sie schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Vor ihr standen zwei Rollbahren. Sie zog den Reißverschluß am Kopfende auf. Das Gesicht einer älteren Frau, die Augen offen, die Lederhaut der Augäpfel erschreckend rot von Blutungen. Mit zitternder Hand zog sie die Hülle wieder zu und wandte sich zu der anderen Bahre. Es war ein wuchtiger Körper. Fauliger Geruch stieg hoch, als sie den Reißverschluß aufzog. Beim ersten Blick auf das Gesicht des Mannes taumelte sie zurück und mußte gegen eine aufkommende Übelkeit ankämpfen. Das Fleisch der rechten Wange hatte sich aufgelöst.
Nekrotizierender Streptococcus, dachte sie, von Bakterien zerfressenes Fleisch.
»Hier ist der Zutritt verboten«, sagte eine Stimme.
Toby drehte sich um. Vor ihr stand der diensthabende Leichenbeschauer. »Ich suche Angus Parmenter. Wo ist er?«
»Sie haben ihn schon in die Ladebucht gerollt.«
»Wird er bereits weggefahren?«
»Der Leichenwagen ist gerade eingetroffen.«
»Mist«, zischte sie und rannte los.
Mit schnellen Schritten war sie an den Türen, die zur Ladebucht hinausführten. Sie stieß sie auf, und die Morgensonne fiel ihr grell ins Gesicht. Sie blinzelte und verschaffte sich einen Überblick: dort der Gehilfe neben der leeren Bahre, da der Leichenwagen, der gerade davonfuhr. Sie schoß an dem Gehilfen vorbei, lief neben dem fahrenden Wagen her und klopfte an die Scheibe des Fahrers.
»Halt! Stoppen Sie!«
Der Fahrer trat auf die Bremse und kurbelte die Scheibe herunter. »Was ist denn?«
»Sie können die Leiche nicht mitnehmen.«
»Das geht schon in Ordnung. Das Hospital hat sie freigegeben und alle Papiere ausgefüllt.«
»Sie muß zur Rechtsmedizin.«
»Davon hat mir keiner etwas gesagt. Soviel ich weiß, hat seine Familie die Bestattung schon mit dem Unternehmen vereinbart.«
»Das ist jetzt ein Fall für die Rechtsmedizin. Erkundigen Sie sich bei Dr. Dvorak im Büro des Amtlichen Leichenbeschauers.«
Der Fahrer sah zurück zur Ladebucht, wo der Gehilfe immer noch stand und ihnen verblüfft zuschaute. »Meine Güte, ich weiß nicht …«
»Hören Sie, das nehme ich ganz allein auf meine Kappe«, sagte sie. »Setzen Sie zurück. Wir müssen die Leiche wieder ausladen.«
Der Fahrer zuckte mit den Schultern. »Wie Sie meinen«, murmelte er und legte den Rückwärtsgang ein. »Irgendwer wird dafür schon seine Abreibung kriegen. Ich hoffe nur sehr, daß ich das dann nicht bin.«
8
Lisa flirtete schon wieder mit ihm. Es gehörte zu den üblichen Irritationen, die er gelernt hatte, über sich ergehen zu lassen: der Augenaufschlag seiner Assistentin und ihr fürsorglicher Blick, ihre unersättliche Neugier, was sein Privatleben betraf, und ihr sichtlicher Frust darüber, daß er es vorzog, ihre Avancen zu ignorieren. Er verstand nicht, warum sie ihn so interessant fand. Wahrscheinlich war gerade seine Schweigsamkeit das, was sie anzog und herausforderte.
Dabei war er für sie ein alter Mann,
mußte er resigniert mit einem Blick auf seine junge Assistentin eingestehen. Lisa
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