Roter Engel
sie. »Ich hatte Angst, es dir zu sagen. Ich habe einfach geglaubt, ich kriege das schon hin, weißt du? Und dann hätte ich dir nichts zu sagen brauchen.«
Seine Hand näherte sich wieder ihrem Gesicht, aber es war eine sanfte Berührung. Eine Liebkosung. »Du weißt doch, daß wir so miteinander nicht umgehen. Du weißt, daß ich mich um dich kümmere. Du mußt lernen, mir zu
vertrauen,
Molly Wolly. Lernen, an mich zu
glauben.
« Seine Finger streichelten ihre Wange. Ganz sanft, es kitzelte ein wenig. »Ich kenne einen Arzt.«
Ihr Körper wurde steif.
»Ich kümmere mich darum, Mol, wie ich mich immer um alles kümmere. Unternimm also nichts anderes. Verstanden?«
Sie nickte.
Als er wieder aus dem Zimmer war, streckte sie die Glieder aus und tat einen tiefen Seufzer. Diesmal war sie gut weggekommen.
Erst jetzt, nachdem die Begegnung vorbei war, wurde ihr klar, wie nah er daran gewesen war, ihr weh zu tun. Stell dich nicht gegen Romy, wenn du deine Zähne im Mund behalten willst.
Sie bekam wieder Hunger. Ständig war sie hungrig. Sie tastete unter dem Bett nach der Tüte Fritos, da fiel ihr ein, daß sie am Morgen alle aufgegessen hatte. Also stand sie auf und suchte das Zimmer nach etwas Eßbarem ab.
Ihr Blick fiel auf das Foto mit dem blonden Kind. Die Broschüre lag auf dem Boden, wo Romy sie hatte fallen lassen.
Wir sind alle Gottes Engel.
Sie hob das Heft auf und betrachtete das Gesicht des Babys.
War es ein Mädchen oder ein Junge? Keine Ahnung. Über Babys wußte sie nicht viel, hatte seit Jahren keines mehr auf dem Arm gehabt. Seit sie selber noch ein junges Mädchen gewesen war. Sie hatte nur noch eine vage Erinnerung an ihre Schwester auf ihrem Schoß. Diese knarzenden Plastikhöschen über Lilys Windeln und der süßliche Pudergeruch auf ihrer Haut hatten sich in ihr Gedächtnis eingegraben. Und daß Lily als Baby einfach keinen Hals gehabt hatte, sondern der Kopf fast ohne Übergang auf den Schultern gesessen hatte.
Sie legte sich hin und breitete die Hände über ihren Bauch und fühlte die Gebärmutter. Unter der Bauchdecke war sie fest wie eine Orange. Sie dachte an die Zeichnung in Lindas Bildband – an das Baby mit all seinen ausgebildeten Fingern und Zehen. Ein Barbie-Püppchen, das man in einer Hand halten konnte.
Wir sind alle Gottes Engel.
Sie schloß die Augen und dachte matt:
Und was ist mit mir? Mich hast Du vergessen, lieber Gott.
Toby zog die Handschuhe aus und warf sie in den Mülleimer.
»Alles genäht. Jetzt hast du etwas, das du den anderen Kindern in der Schule zeigen kannst.«
Der Junge faßte sich ein Herz und sah seinen Ellbogen an. Er hatte die Augen fest zugehabt und nicht einen einzigen Blick gewagt, als Toby die Wunde Stich um Stich nähte. Jetzt starrte er ehrfürchtig auf die Knötchen aus blauen Nylonfäden.
»Wow. Wie viele Stiche?«
»Fünf.«
»Ist das viel?«
»Fünf zuviel. Vielleicht solltest du das alte Skatebord besser in die Ecke stellen.«
»Ach was. Dann würde mir bei was anderem was passieren.« Er setzte sich auf und rutschte vom Behandlungstisch. Im selben Moment torkelte er zur Seite.
»Oje«, sagte Maudeen. Sie griff ihm unter die Arme und half ihm in einen Sessel. »Du hast es zu eilig, Junge.« Sie strich ihm über den Kopf, sah Toby an und rollte die Augen. Teenager.
Große Lippe und nichts dahinter. Der hier würde morgen wahrscheinlich in die Schule stolzieren und mit seinen jüngsten Kriegsverwundungen prahlen. Und bestimmt würde er nicht versäumen, auch den Teil hervorzuheben, wie er fast in den Armen einer Schwester weggesackt wäre.
Die Sprechanlage summte. Val meldete sich. »Dr. Harper, eine Reanimation oben in Zwei West.«
Toby sprang auf die Füße. »Bin schon unterwegs.«
Sie lief durch den Flur zum Treppenhaus, ließ den Aufzug aber Aufzug sein. Ihre eigenen Beine waren schneller.
Im Korridor Zwei West entdeckte sie eine Schwester, die gerade den Notfallwagen durch eine Tür schob, und folgte ihr in das Krankenzimmer.
Zwei Stationsschwestern standen schon am Bett des Patienten.
Eine hielt ihm eine Maske vor das Gesicht und versorgte ihn mit Sauerstoff, die andere half mit Brustkompressionen. Die Schwester mit dem Wägelchen zog die Kabel des EKG-Geräts heraus und setzte die Kontakte auf die Brust des Patienten.
»Was ist passiert?« wollte Toby wissen.
Die Schwester, die die Beatmung vornahm, antwortete: »Hatte einen Anfall, wurde schwach, Atmung setzte aus …« Sie stieß die Worte im Rhythmus der
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