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Roter Engel

Roter Engel

Titel: Roter Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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ruderte sie, um hochzukommen. Er half ihr nicht, faßte sie nicht einmal an. Sie roch ganz fürchterlich. Er war schon auf dem Weg zur Tür und wollte sie ihr verdrecktes Laken allein abziehen lassen.
    »Romy«, sagte sie.
    »Ja?«
    »Wie bin ich hierhergekommen?«
    Er lachte. »Meine Güte, dich hat es aber wirklich erwischt, nicht?« Dann war er aus dem Zimmer.
    Sie saß eine Zeitlang auf der Bettkante und versuchte, sich an die letzten Stunden zu erinnern. Bemühte sich, ihre restliche Benommenheit abzuschütteln.
    Es hatte da einen Kunden gegeben – daran zumindest erinnerte sie sich. Einen Mann ganz in Grün. Einen Raum mit einem riesigen Spiegel. Und da war ein Tisch gewesen.
    Doch an den Sex konnte sie sich nicht erinnern. Vielleicht hatte sie den verdrängt. Vielleicht war es eine so abstoßende Erfahrung gewesen, daß sie es weggeschoben hatte, genau wie sie so viele Dinge aus ihrer Kindheit erfolgreich verdrängt hatte. Nur hin und wieder ließ sie einen kleinen Erinnerungsfetzen aus der Kindheit auftauchen. Meistens waren es die schönen Dinge.
    Ein paar schöne Erinnerungen an die Zeit, als sie in Beaufort aufwuchs, hatte sie schon, und sie konnte sie willkürlich wieder heraufbeschwören. Oder genauso unterdrücken.
    Doch an das, was an diesem Nachmittag vorgefallen war, konnte sie sich kaum erinnern.
    Mein Gott, wie sie stank. Sie sah hinunter auf ihre Bluse. Voll von Erbrochenem. Die Knöpfe waren falsch zugeknöpft, und an einer verschobenen Stelle schaute die nackte Haut heraus.
    Sie zog sich aus, schob den Minirock hinunter, knöpfte die Bluse auf und warf beides in einem Haufen auf den Fußboden.
    Dann stolperte sie ins Badezimmer und drehte die Dusche auf.
    Kalt. Sie wollte es kalt haben.
    Unter dem Wasserstrahl wurde der Kopf langsam klarer. Dabei flackerte ein anderes Stück Erinnerung auf. Der Mann in Grün, wie er über ihr stand. Auf sie herabsah. Und die Riemen an Hand- und Fußgelenken.
    Sie sah sich ihre Hände an und entdeckte die Druck-stellen, die wie die runden Abdrücke von Handschellen aussahen. Er hatte sie festgebunden – nicht besonders ungewöhnlich. Männer und ihre hirnrissigen Spiele.
    Dann blieb ihr Blick an einem anderen Bluterguß hängen, in ihrer linken Armbeuge. Er war so schwach, daß sie die kleine blaue Stelle fast übersehen hätte. Mitten in dem runden Fleck war ein winziger Einstich zu sehen.
    Hatte sie eine Nadel gespürt? Sie konnte sich, sosehr sie sich auch anstrengte, an nichts dergleichen erinnern. Nur an den Mann mit der Maske.
    Und an den Tisch.
    Das kalte Wasser tropfte ihr auf die Schultern. Molly schüttelte sich, schaute auf den Nadelstich und fragte sich, was sie wohl sonst noch vergessen hatte.

3
    Aus der Sprechanlage an der Wand kam die Stimme einer Schwester: »Dr. Harper, wir brauchen Sie hier.«
    Toby Harper schreckte hoch. Sie war an ihrem Schreibtisch eingenickt, mit einem Stapel medizinischer Fachzeitschriften als Kopfkissen. Zögernd hob sie den Kopf und blinzelte ins Licht der Leselampe. Der Wecker in seinem Messinggehäuse auf dem Schreibtisch zeigte vier Uhr neunundvierzig morgens.
    Hatte sie wirklich fast vierzig Minuten geschlafen? Es kam ihr vor, als hätte sie den Kopf nur einen Augenblick niedergelegt.
    Die Wörter in dem Artikel, den sie gelesen hatte, hatten angefangen, vor ihren Augen zu verschwimmen: Sie hatte sich einen Moment Ruhe gegönnt. Nichts anderes hatte sie gewollt, nur eine kurze Erholung von dem langweiligen Text und der schmerzhaft kleinen Schrift. Die Zeitschrift lag noch aufgeschlagen mit dem Artikel vor ihr, den sie zu lesen versucht hatte. Jetzt sah man den Abdruck ihres Gesichts auf der Seite.
    »Eine randomisierte Kontrollstudie zum Vergleich der Ergebnisse bei der Anwendung von Lamivudin und Zidovudin bei HIV-Patienten mit weniger als 500 CD4+-Zellen pro Kubikzentimeter«. Sie klappte die Zeitschrift zu. Mein Gott. Kein Wunder, daß sie eingeschlafen war.
    An der Tür klopfte es. Maudeen steckte den Kopf ins Bereitschaftszimmer. Maudeen Collins, Exsanitätsoffizier der U. S. Army, hatte ein Organ wie ein Megaphon – was man nicht gerade erwartete, wenn man diese einsfünfundfünfzig große Elfe vor sich sah. »Toby? Sie haben doch nicht etwa geschlafen?«
    »Ich glaube, ich habe ein wenig gedöst. Was ist denn?«
    »Wir haben einen entzündeten Zeh.«
    »Jetzt?«
    »Der Patient hat kein Colchicin mehr, und er fürchtet, seine Gicht hat ihn wieder.«
    Toby stöhnte auf. »Herrgott noch mal. Warum denken diese

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