Roter Hibiskus: Roman (German Edition)
stellte sich vor, sie sei ein neu angekommener Gast. Die Fenster mit den diamantenförmigen Oberlichtern in der Steinfassade des Haupthauses blitzten vor Sauberkeit, und die Wege waren frisch gefegt. Sie blickte zu den beiden Gästehütten, die man von hier aus sehen konnte – traditionelle afrikanische Rundhütten mit Lehmwänden und strohgedeckten Dächern, die einen exotischen Kontrast zum englischen Stil des Hauses bildeten. Kerosin-Laternen hingen in den Türöffnungen. Daneben standen Korbstühle, als ob jeden Moment Tee serviert werden würde. Alles war so, wie es sein sollte. Und doch wirkte der Ort verlassen. Die Vorhänge waren zugezogen, und nirgendwo lagen Bücher oder Schuhe oder standen Teetassen herum. Im Garten blühte es immer noch bunt – Ringelblumen, Geranien und Bougainvilleen in allen erdenklichen Farbtönen –, aber der Rasen, der normalerweise das ganze Jahr über grün blieb – er wurde mit dem Wasser aus den Duschhütten gewässert –, war so trocken und braun wie das Gras der Savanne.
Mara fiel ein Gegenstand auf, der am Wegrand lag. Es war die braune Lederhülle, in der ihr Mann seine Sonnenbrille aufbewahrte – offensichtlich hatte er sie fallen lassen, als er vor drei Tagen nach Daressalam aufgebrochen war. Sie bückte sich, um sie aufzuheben. Dabei glitt ihr das Gewehr seitlich über den Rücken. Unwillkürlich dachte sie an ihren Abschied. Wie steif sie dagestanden hatte, als John ihr einen Abschiedskuss gegeben hatte. Die kurze Berührung seiner Lippen auf ihrer Wange. Wieder sah sie den niedergeschlagenen Ausdruck in seinen Augen, als er in den Landrover gestiegen war – und sie wusste genau, dass es ihren eigenen Empfindungen entsprach. Schweigend hatte sie ihm nachgeblickt, als der Wagen über den holprigen Weg davonrumpelte.
Und in dem Augenblick, als John um die Ecke gebogen und nicht mehr zu sehen gewesen war, war ein anderes Gefühl in Mara erwacht. Es war schwerer zu benennen, und sie tastete ihre Erinnerung ab, als wollte sie feststellen, ob die Wunde noch schmerzte. Schließlich wurde ihr klar, was sie empfunden hatte. Es war ein Gefühl der Erleichterung gewesen. Erleichterung über die Aussicht, von ihm getrennt zu sein.
Sie schloss die Augen. Durch das Vogelgezwitscher in den Mangobäumen hörte sie Stimmen. Sie dachte, dass sie eigent lich die Perlhühner hineinbringen und Kefa sagen sollte, dass sie zurück war. Aber ihr Körper fühlte sich schwer an – müde und langsam.
Sie blickte auf, als es plötzlich in den Bäumen am Rand des Gartens raschelte. Ein Afrikaner kam auf den Rasen gelaufen. Mara erkannte Tomba, der immer ein Cowboyhemd zu seinem traditionellen Lendentuch trug.
Tomba kam auf sie zugerannt und blieb ein paar Schritte vor ihr stehen. Trotz seiner Eile grüßte er Mara höflich in einer Mischung aus Swahili und Englisch.
»Wie ist deine Arbeit?«, fragte er. »Was isst du? Wie ist deine Gesundheit?«
Mara erwiderte den Gruß mit den gleichen Formeln, wobei sie versuchte, ihre Ungeduld zu verbergen. Sie forschte in seinem Gesicht nach Anzeichen von Alarm, sah aber nur Erregung. Endlich war er fertig.
» Namna gani? Was ist los?«, fragte Mara. »Ist etwas passiert?«
»Besucher kommen!«, sagte Tomba. »Ich bin hier, um ihr Gepäck zu tragen.«
Mara blickte ihn stumm an. Dann schüttelte sie den Kopf. »Du irrst dich«, erwiderte sie. »Niemand kommt hierher.« »Ich spreche die Wahrheit«, beharrte Tomba. »Ich habe ihren Landrover gesehen.« Er wies in Richtung der Straße nach Kikuyu. »Ich bin zwischen den Bäumen hindurchgerannt, ein schneller Weg. Deshalb bin ich als Erster angekommen. Es sind Jagdgäste, das habe ich gesehen. Sie wollen auf Safari gehen.« Tomba brach ab und runzelte die Stirn. »Warum freust du dich nicht, Memsahib? Der Bwana mag Gäste. Alle mögen sie.«
»Wir erwarten niemanden«, sagte Mara fest. Tomba öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, blickte sie dann aber nur an. Mara konnte spüren, dass er versuchte, das korrekte Maß an Respekt ihr gegenüber abzuwägen. Sie war die Frau des Bwana und eine Europäerin. Andererseits war sie jünger als er und noch nicht Mutter.
Mara wich Tombas Blick aus und musterte das Brillenetui. Es tat ihr leid, dass er enttäuscht werden würde. John hatte schon seit Wochen – vielleicht sogar seit Monaten – keinen Kunden mehr gehabt. Mara wusste, dass sich die Leute des nahe gelegenen Dorfes über die Jahre auf die Einkünfte verlassen hatten, die sie aus der
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