Rotglut
telefonisch vereinbart hatte, sollte gegen Abend stattfinden.
Yves ging davon aus, dass der Park dann menschenleer sein würde, die meisten würden wohl jetzt schon vor dem Fernseher sitzen, schließlich erfolgte in wenigen Minuten der Anpfiff zu einem wichtigen Fußballspiel. Anschließend würden die Menschen feiern, sofern es etwas zu feiern gäbe.
Beide – so war sein Eindruck gewesen – hatten mit seinem Anruf gerechnet. Ihre Reaktion war trotzdem unterschiedlich ausgefallen. Auf der einen Seite eine hasserfüllte Stimme: ›Hast du den Hals immer noch nicht voll genug bekommen?‹, auf der anderen Seite blankes Entsetzen und Angst. ›Können wir die alte Geschichte nicht endlich vergessen und begraben, ich bitte dich!‹ Beide hatten sich dann aber doch bereit erklärt, sich mit ihm zu treffen.
Yves hatte noch etwas Zeit. Er überlegte kurz, ob er noch einmal seine Tochter anrufen sollte. Doch er verwarf den Gedanken und ließ es sein. Allmählich fingen die grünen Pillen an zu wirken, der Schmerz ließ nach, und Yves fühlte sich von Minute zu Minute frischer. Als der Arzt in Abidjan ihm die Diagnose gestellt hatte, war es bereits zu spät gewesen. Sein ewiges Husten hatte irgendwann Joseph auf die Palme gebracht. ›Patron, es hört sich an, als würdest du dir gleich die Lunge aus dem Hals kotzen‹, hatte er gesagt. Und genauso hatte es sich angefühlt. Ladungen von Antibiotika hatten nichts gebracht und nur einen Haufen Geld gekostet. Er war hinüber, ein Wrack, das nur noch wenige Monate zu leben hatte.
Schon bei seinem ersten Gang durch Bremen nach all den Jahren hatte Yves feststellen müssen, wie sehr sich alles gewandelt hatte. Touristenströme bevölkerten die ›Gute Stube‹ im Herzen Bremens, den Marktplatz. Vor allem Skandinavier waren aus der Menge herauszuhören, aber auch eine Truppe Sachsen war ihm aufgefallen. Die Wende vor 20 Jahren hatte Yves in Afrika miterlebt und in der folgenden Zeit, weniger erstaunt als interessiert, die Meldungen und Nachrichten über die Machenschaften der Stasi verfolgt. Ihn hatte nichts mehr gewundert.
Yves hatte sich am Vormittag eine Stadtrundfahrt gegönnt. Um 10.30 Uhr fuhr am Hauptbahnhof ein Sightseeing-Bus ab, denn er wollte seine alte Heimatstadt bequem neu erkunden. Es war schon sehr warm und der Bus besaß glücklicherweise eine Klimaanlage. In Afrika drängten sich die Leute in den Bussen so eng aneinander, dass man kaum Luft bekam, oftmals schleppten sie Hühner oder Ziegen mit hinein. Yves hatte sich in all den Jahren an den Gestank und die Enge gewöhnt. Klimaanlagen in den Bussen? Ein unbekannter Luxus. Das Fahrzeug wartete bereits, und nach zehn Minuten war es bis auf den letzten Platz besetzt. Ein Stadtführer gab die Route bekannt:
»Historischer Marktplatz, Universität, Universum, Schwachhausen, Bürgerpark, Viertel, das Altbremer Haus, das ›grüne‹ Bremen, Weserüberquerung und Weser-Stadion.«
An jeder Station hing Yves seinen Gedanken nach. Der Marktplatz, heute natürlich proppenvoll wegen des Fußballspiels, eine riesige Leinwand stand auf dem Domshof. Public Viewing hieß das heutzutage.
Die Universität. ›Rote Kaderschmiede‹ hatte man sie genannt. Das Universum, ein interaktives Museum, hatte es zu seiner Zeit noch nicht gegeben. Das Viertel, bunt und laut. Keine Kneipe, die er damals nicht gekannt hatte. Werder. Fußball hatte ihn nie wirklich interessiert. Das Stadion wurde gerade umgebaut, der Stadtführer war deswegen total aus dem Häuschen. In der kommenden Saison wird Bremen Meister, prophezeite er. Nach der Rundfahrt war Yves erschöpft gewesen. Der Bus hatte ihn zurück zum Bahnhof gebracht und er hatte sich in sein Hotel geschleppt, um sich vor dem Treffen noch ein paar Stunden aufs Ohr zu legen.
Jetzt war er gespannt, wie die beiden seine ›Bitte‹ auffassen würden. Teschen hatte zwar gemeint, er sollte sich nicht allzu große Hoffnungen machen, da wäre sicher nichts zu holen, aber was wusste der schon. Die hatten doch alle schon immer Geld wie Dreck gehabt.
Durst quälte ihn und er trank die Wasserflasche, die neben seinem Bett stand, auf einen Zug leer. Von draußen erreichte ihn der misstönende Klang einiger Vuvuzelas. Durchdringend wie ein Hornissenschwarm. Ein Blasinstrument aus Afrika, von dem er bis vor ein paar Tagen noch nie etwas gehört hatte, und jetzt war es, im wahrsten Sinne des Wortes, in aller Munde. Grässlich.
Yves kramte ein frisches Hemd aus einer der bunten Schubladen einer
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