Rotglut
gelesen? Ich hab noch gedacht, das wäre für Schlaufis Seminar noch die Krönung gewesen. Die ›Brigate Rosse‹«, sie rollt das ›R‹ genüsslich, »die haben doch diesen Staatsanwalt aus Genua entführt. Sossi. Und den halten die so lange fest, bis sie die inhaftierten Kämpfer des – lasst mich mal überlegen, irgendwas mit Oktober, ist ja auch egal – freilassen. Das ist doch ’ne heiße Nummer.«
»Hirngespinste. Eine Sitzblockade, das ist reell, von allem anderen lassen wir die Finger. Ich meine, ihr habt zu tief ins Glas geschaut. Mit so was versaut man sich ja seine ganze Zukunft. Ich geb ja gern zu, dass ich eben hier noch groß getönt habe. Aber so was in die Realität umzusetzen, nee, ich weiß nicht. Da krieg ich dann doch kalte Füße. Apropos kalte Füße, ich geh jetzt nach Hause, dieselbigen unter die Decke stecken. Und ihr werdet auch besser wieder nüchtern.«
Das Ziegenbärtchen namens Che erhebt sich, greift seinen Parka und legt einen Zehnmarkschein auf den Tisch.
»Ist ja schon gut. Wir kommen mit raus. War ja nur so eine Idee. Aber trotzdem, die hat was.« Vara wirkt ernüchtert und enttäuscht. Sie und der Dunkelhaarige werfen ein paar Münzen zu dem Geldschein, schlingen sich die schwarz-weiß gemusterten Palitücher um den Hals und verlassen mit ihrem Freund die Kneipe.
»Also dann, bis demnächst. Wir können uns gern mal bei mir zu Hause treffen. Auf ein Tässchen Tee mit Schuss oder so. Wenn ihr wollt, besorg ich noch was zu rauchen. Meine Alten machen bald wieder mal die Flatter.« Vara wirft den beiden eine Kusshand zu, schließt ihr Fahrradschloss auf und verschwindet im Dunkeln.
»Verrückte Nudel. Man könnte fast meinen, die hat es ernst gemeint.« Die beiden Jungs winken ihrer Freundin zum Abschied zu, Gue mit geballter linker Faust.
»Ich glaube, mein Bett kann noch etwas warten. Wie wär’s mit einem letzten Bierchen im Stubu, damit wir wieder einen klaren Kopf kriegen?« Che versieht das Wort ›klar‹ mit Lufthäkchen. »Die Füße kannst du auch noch später unter die Decke stecken.« Er sieht seinen Freund aufmunternd an.
»Okay, dann geh, Gue. Aber im Eiltempo, bevor der Laden dichtmacht.« Sie lachen meckernd und sich gegenseitig in die Seiten knuffend, steuern sie die nächste Kneipe an. Doch Varas Idee lässt Gue trotz seiner Vorbehalte nicht los.
1 Jan Carl Raspe, Andreas Baader und Holger Meins befanden sich in der Realität bereits seit 1972 in Haft
2 Benno Ohnesorg, Student. Erschossen bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin 1967.
3 Rudi Dutschke, Wortführer der West-Berliner Studentenbewegung
Mai 2010, Sassandra, Elfenbeinküste
Yves Renard lehnt sich in seinem Schaukelstuhl, der auf der Veranda steht, zurück. Die Regenzeit, die bis Ende Juni dauert, hat begonnen. In zwei Stunden wird seine Kneipe öffnen und Joseph Kutesa, Barkeeper, Restaurantchef und Koch in einer Person, hat bereits begonnen, die Fische auszunehmen, die er am frühen Morgen auf dem Markt besorgt hat. Die Süßkartoffeln köcheln vor sich hin, Joseph wird sie zu einer dicken Paste als Beilage zum Fisch verarbeiten.
Es ist heute bereits das dritte Glas Weißwein. Yves weiß, dass er nicht so viel trinken sollte, aber in seinem Zustand kommt es auf die paar Flaschen am Tag auch nicht mehr an.
Das kleine Lokal in Sassandra läuft im Moment ganz gut, obwohl die Stadt, etwa 270 km vom Regierungssitz Abidjan entfernt und südlich des Parc National du Gaoulou gelegen, nur ganz allmählich zur Normalität zurückgekehrt ist. Touristen verirren sich nur ab und zu an die wunderschöne Südküste des Landes. Man kann nur hoffen, dass die politische Lage nun einigermaßen stabil bleiben wird. Renard ist trotz der jahrelangen Unruhen im Land geblieben. Der Regierungsarmee im Süden des Landes bringt er auf jeden Fall mehr Vertrauen entgegen als den Rebellen im Norden. Er ist gespannt auf die Neuwahlen Ende Oktober, wenn er sie noch erlebt. Seine Krankheit schreitet fort.
Er liebt dieses Land und auch, als die französische Bevölkerung aufgerufen worden war, die Elfenbeinküste zu verlassen, hatte er sich nicht beeindrucken lassen. Er ist geblieben, hat seine Kneipe mit Joseph mehr schlecht als recht über Wasser gehalten. An vielen Tagen hatten sie gar nicht geöffnet, doch mit Joseph, einem einheimischen Kru, an seiner Seite hat er alle brenzligen Situationen gemeistert. Joseph, der nun fast 20 Jahre bei ihm arbeitet, ist sein engster Freund geworden. Wenn
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