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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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Verbindung mit einer Krücke zu Gleichgewicht und Stabilität. Wenn der Verfall sich fortsetzte - und das kommt bei Polio-Opfern, die am sogenannten Post-Polio-Syndrom leiden, oft vor -, würde er sich, wie er sagte, bald nur noch in einem Rollstuhl fortbewegen können.
    Wir begegneten uns eines Mittags an einem Frühlingstag des Jahres 1971 auf der belebten Broad Street, etwa in der Mitte zwischen unseren jeweiligen Arbeitsplätzen. Ich erkannte ihn, obwohl er inzwischen fünfzig war und einen recht großen Schnurrbart trug. Sein einst schwarzes Haar war nicht mehr militärisch kurz geschnitten, sondern erhob sich wie ein weißes Dickicht auf seinem Kopf, und auch der Schnurrbart war weiß. Und natürlich hatte er auch nicht mehr diesen athletischen Gang mit leicht einwärts gekehrten Zehen. Die scharfen Kanten in seinem Gesicht waren abgemildert von den Pfunden, die er zugelegt hatte, und daher sah er nicht mehr annähernd so gut aus wie als junger Mann. Damals hatte der Schädel unter der gebräunten Haut gewirkt, als wäre er mittels einer Maschine auf den Millimeter genau zurechtgefräst worden; es war der Kopf eines jungen Mannes gewesen, der selbstbewusst seinen Platz in der Welt einnahm. Dieses ursprüngliche Gesicht war inzwischen in einem anderen, fleischigeren verborgen - es war eine Verhüllung, wie Menschen sie häufig sehen, wenn sie resigniert ihr alterndes Spiegelbild betrachten. Nichts erinnerte mehr an den kompakten Athleten; die Muskeln waren geschmolzen, und die Gedrungenheit hatte sich verstärkt. Jetzt war er nur noch stämmig.
    Ich war inzwischen neununddreißig, ein kleiner, dicker, bärtiger Mann, der wenig bis keine Ähnlichkeit mit dem zarten Jungen von früher hatte. Als ich ihn erkannte, war ich so aufgeregt, dass ich ihm nachrief: »Mr. Cantor! Mr. Cantor! Ich bin Arnold Mesnikoff. Vom Sportplatz der Chancellor Avenue School. Alan Michaels war mein bester Freund. Er hat in der Schule neben mir gesessen.« Obwohl ich ihn nie vergessen hatte, war mir Alans Name in den vielen Jahren seit seinem Tod in jenem Jahrzehnt, als Krieg, Atombombe und Polio uns als die größten Bedrohungen erschienen waren, nicht mehr über die Lippen gekommen.
    Nach dieser ersten berührenden Begegnung auf der Straße trafen wir uns einmal pro Woche zum Mittagessen in einem nahegelegenen Imbiss, und so erfuhr ich seine Geschichte. Wie sich herausstellte, war ich der erste, dem er sie ganz erzählte, vom Anfang bis zum Ende und - da er mit jeder Woche mehr Vertrauen zu mir fasste - ohne viel auszulassen. Ich tat mein Bestes, genau zuzuhören, während er in Worte fasste, was ihn den größten Teil seines Lebens beschäftigt hatte. Dieses Reden schien ihm weder angenehm noch unangenehm zu sein - es war vielmehr ein Hervorsprudeln, das er bald nicht mehr kontrollieren konnte, es war weder Entlastung noch Trost, sondern der schmerzhafte Besuch, den ein Verbannter seiner unerreichbaren Heimat abstattet, dem geliebten Geburtsort, dem Schauplatz seines Verderbens. Auf dem Sportplatz hatten wir nicht sehr viel miteinander zu tun gehabt - ich war ein stiller, schüchterner, schmächtiger Junge und nie gut in Sport -, doch die Tatsache, dass ich in jenem schrecklichen Sommer einer der Jungen vom Sportplatz gewesen war, dass ich der beste Freund des Jungen gewesen war, den er besonders gemocht hatte, und wie Alan und er selbst Polio bekommen hatte, machte ihn auf eine schonungslose Weise freimütig, die mich, den Zuhörer, den er nur als Kind gekannt hatte, manchmal verblüffte, den Zuhörer, der ihm jetzt das Vertrauen vermittelte, das er damals mir und den anderen vermittelt hatte.
    Im Großen und Ganzen umgab ihn, während er über die Dinge sprach, über die er jahrelang geschwiegen hatte, die Aura einer unauslöschlichen Niederlage - er war nicht nur durch die Polio verkrüppelt, sondern auch demoralisisert durch jahrelange Scham. Er war das genaue Gegenteil von Franklin D. Roosevelt, dem berühmtesten Polio-Opfer des Landes - Bucky hatte nicht triumphiert, sondern war besiegt worden. Die Lähmung und alles, was sie nach sich zog, hatten sein männliches Selbstbewusstsein irreparabel beschädigt, und so hatte er sich von diesem Lebensbereich vollkommen abgewendet. Er betrachtete sich als Neutrum - für einen Mann, der erwachsen geworden war in einer Zeit von Leid und Kampf, in der Männer furchtlose Verteidiger von Heimat und Nation zu sein hatten, war das eine bestürzende Selbsteinschätzung. Als ich ihm erzählte,

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