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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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ich hätte eine Frau und zwei Kinder, sagte er, er habe es nach seiner Lähmung nie über sich gebracht, eine Beziehung zu einer Frau zu haben, geschweige denn zu heiraten. Ihn erbitterte nicht nur, was die Polio seinem Körper angetan hatte, sondern auch der Körper selbst, und er zeigte sei nen verkümmerten Arm und das geschwächte Bein niemandem außer einem Arzt oder - als sie noch gelebt hatte - seiner Großmutter, die ihn nach seiner Entlassung aus dem Rehabilitationszentrum in Philadelphia hingebungsvoll gepflegt hatte und in den vierzehn Monaten seines Aufenthalts jeden Sonntag Nachmittag mit dem Zug dorthin gefahren war, um ihn besuchen, obwohl die Schmerzen in ihrer Brust auf ein Herzleiden zurückzuführen waren.
    Seine Großmutter war längst gestorben, doch bis zu den Unruhen in Newark im Jahr 1967 - bei denen ein Haus in der Straße niedergebrannt worden war und jemand von einem Hausdach in der Nähe Schüsse abgefeuert hatte - war er in der Barclay Street unweit der Avon Avenue geblieben. Er musste mühsam die Außentreppe hinaufsteigen, die er früher drei Stufen auf einmal hinausgesprungen war, und das tat er also, ganz gleich, wie rutschig und vereist die Stufen waren, denn er wollte in der Wohnung sein, wo er die grenzenlose Liebe seiner Großmutter erfahren hatte und sich am besten an ihre immer freundliche, mütterliche Stimme erinnern konnte. Obgleich oder vielleicht gerade weil es in seinem Leben keinen geliebten Menschen mehr gab, konnte er ein klares Bild seiner Großmutter heraufbeschwören, wie sie einmal die Woche auf der Treppe kniete und sie mit Wurzelbürste und Seifenlauge putzte oder wie sie am Kohlenherd stand und für die kleine Familie kochte. Es war das Äußerste, was er sich an tröstlichen Gedanken über Frauen zugestand.
    Er war, seit er im Juli 1944 nach Camp Indian Hill aufgebrochen war, nie mehr in Weequahic gewesen. Er hatte weder den Sportplatz noch die Sporthalle der Chancellor Avenue School wiedergesehen.
    »Warum nicht?«, fragte ich.
    »Warum sollte ich? Ich hab die Seuche nach Weequahic eingeschleppt. Ich war der Überträger auf dem Sportplatz. Ich war der Überträger in Indian Hill.«
    Dieser Gedanke bestürzte mich. Ich war vollkommen unvorbereitet auf diese Unnachsichtigkeit.
    »Waren Sie das wirklich?«, sagte ich. »Dafür gibt es doch keinen Beweis.«
    »Es gibt auch keinen Beweis dafür, dass ich es nicht war«, erwiderte er und blickte dabei, wie meist bei unseren mittäglichen Gesprächen, entweder auf einen Punkt in unbestimmter Ferne oder auf seinen Teller. Er wollte anscheinend nicht, dass ich oder irgendjemand sonst, ihm forschend in die Augen sah.
    »Sie haben einfach Kinderlähmung bekommen«, sagte ich, »Sie haben sie bekommen wie wir anderen, die das Pech hatten, sich elf Jahre zu früh anzustecken. Mit der Entwicklung des Impfstoffs hat die Medizin des zwanzigsten Jahrhunderts einen enormen Fortschritt gemacht, nur leider kam er für uns zu spät. Heutzutage können Kinder die Sommerferien sorglos genießen. Die Kinderlähmung ist praktisch ganz verschwunden. Heute ist man ihr nicht mehr so hilflos ausgeliefert wie damals. Aber was Sie betrifft, ist es wahrscheinlicher, dass Sie die Polio von Donald Kaplow bekommen haben als umgekehrt.«
    »Und was ist mit Sheila? Wer hat sie angesteckt? Das alles ist schon viel zu lange her, um es noch einmal durchzugehen«, sagte er, nachdem er bereits praktisch alles mit mir durchgegangen war. »Was geschehen ist, ist geschehen«, sagte er. »Was ich getan habe, habe ich getan. Was ich nicht habe, kann ich entbehren.«
    Aber ich wollte es nicht dabei belassen. »Aber selbst wenn es möglich wäre, dass Sie ein Überträger waren, dann waren Sie es unwissentlich. Sie haben doch hoffentlich nicht die ganze Zeit mit Schuldgefühlen gelebt und sich verachtet und bestraft für etwas, das Sie nicht getan haben. Sie fällen ein zu hartes Urteil.«
    Es trat eine Stille ein, in der er auf einen Punkt weit hinter meinem Kopf starrte, einen Punkt, der vermutlich das Jahr 1944 war.
    »Wollen Sie wissen, womit ich den größten Teil dieser Jahre gelebt habe? Mit Marcia Steinberg. Ich habe vieles hinter mir gelassen, aber mit ihr ist mir das nie ganz gelungen. Nach all den Jahren glaube ich sie manchmal auf der Straße zu sehen.«
    »Sie war damals zweiundzwanzig?«
    Er nickte, und um sein Geständnis zu vollenden, sagte er: »Besonders an Sonntagen will ich nicht an sie denken, und doch denke ich dann am meisten an sie.

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