Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Überraschung öffnete ihr eine junge Frau mit wilder Frisur die Tür, die sie vorher noch nie gesehen hatte, vermutlich eine von Annas unzähligen Freundinnen, über die sie ständig den Überblick verlor.
»Hej, ich bin Madeleine«, sagte das Mädchen in dem weiten T-Shirt und den Strumpfhosen mit Tigermuster. Es streckte ihr eine Hand entgegen. »Wir lernen gerade für die Friseurinnenprüfung«, fügte es hinzu, »Styling und so einen Kram.«
Um acht Uhr morgens, dachte Nyström, aber sie sagte es nicht laut. Das Letzte, was sie heute wollte, war ein Streit mit ihrer Tochter. Außerdem war sie insgeheim sogar zufrieden, dass sich der aktuelle Berufswunsch Annas zu verfestigen schien.
»Genau«, krähte Anna aus dem Hintergrund und, als habe sie die Gedanken ihrer Mutter erraten, »der frühe Vogel fängt den Wurm.«
Anna schnitt ihr die Haare und überredete sie anschließend sogar dazu, Lidschatten und etwas Rouge aufzutragen. Schließlich begutachtete sie ihre Mutter zufrieden.
»Jetzt siehst du wie eine richtige Chefin aus.«
Madeleine grinste.
»Eine echte femme fatale .«
»Du siehst ja wie eine richtige Chefin aus!«
Lars Knutsson war der Erste, den sie im Flur der Abteilung im dritten Stock des Präsidiums traf.
»Herzlichen Glückwunsch zu deiner Beförderung, Ingrid!«
Ein wenig unbeholfen nahm der dicke, große, bärtige Mann sie in die Arme. Es fühlte sich an, als ringe sie mit einem Bären. Lars Knutsson war wie sie Anfang fünfzig und arbeitete seit vielen Jahren gemeinsam mit ihr in der Abteilung.
»Danke, Lasse.«
»Du hast es verdient, wirklich. Alle hier denken so. Mach dir also bloß nicht zu viele Gedanken.«
»Gunnar hat mit dir geredet, oder?«
»Ich war gestern bei ihm, aber ...«
Lars Knutsson wurde rot. Er kratzte seinen Bart.
»Du, meinst du, du hast später noch mal ein bisschen Zeit für mich?«
»Geht es um die Lkw-Diebstähle in Alvesta?«
»Nein. Ja. Auch. Eigentlich um etwas anderes. Mein Sommerurlaub. Es war so, dass ich mich schon im Herbst eingetragen hatte. In den Urlaubskalender, meine ich. Und dann habe ich mich wieder ausgetragen, weil meine Frau doch im Frühjahr in Kur sollte. Also, jetzt wurde dieser Kuraufenthalt verlegt, und mein Schwager hat uns in sein Sommerhaus nach Öland eingeladen, aber nun haben sich schon zwei Kollegen für Juli in die Liste geschrieben und ...«
»Lasse.«
»Mmh.«
»Heute ist mein erster Tag.«
»Mmh.«
»Ich bin noch nicht mal in meinem Büro angekommen. Ich habe meine Jacke noch an und meine Tasche noch nicht abgestellt. Auf meinem Schreibtisch liegen ein riesiger Stapel Akten und die halb fertigen Dienstpläne für den nächsten Monat. Um neun kommt der Chef wegen der ganzen Formalitäten, und um halb elf stellt sich unsere neue Mitarbeiterin vor.«
Nyström atmete hörbar aus. Sie konnte fühlen, dass sie unter der ungewohnten Schminke schwitzte, außerdem kratzten Haarschnipsel im Kragen.
»Meinst du, wir können morgen über deinen Urlaub reden?«
»Kein Problem, Ingrid. Wirklich kein Problem.«
Knutssons Gesicht glühte. Er machte auf dem Absatz kehrt und stapfte mit großen Schritten den Flur hinab.
»Lasse«, rief sie. Der bullige Mann stoppte und drehte sich wieder zu ihr um. »Wegen der Lkw-Geschichte: Sagen wir nach dem Mittagessen in meinem Büro?«
Der Termin mit Erik Edman, dem Chef der Dienststelle, verlief so unerfreulich, wie sie es erwartet hatte. Die Besetzung des Postens mit dem eloquenten, aber wenig kompetenten Mann war eine politische Konzession gewesen, die in den vergangenen Jahren für einigen Unmut unter den Kollegen gesorgt hatte. Seine fehlende Sachkenntnis und Arbeitsmoral waren legendär, und nicht wenige nannten ihren obersten Vorgesetzten hinter vorgehaltener Hand Halbvier-Erik, denn das war die Uhrzeit, zu der er normalerweise das Präsidium Richtung Golfplatz verließ. Der formale Teil ihrer Beförderung zur Hauptkommissarin und Leiterin der Abteilung Kriminalpolizei bestand darin, dass er ein Fax der stellvertretenden Landespolizeichefin vorlas, das aus Stockholm gekommen war. Dazu gab es einen ganzen Katalog an Papieren, die sie unterzeichnen musste, und schließlich eine Urkunde.
»Es ist deine Chance«, sagte Edman, als er ihr die Hand schüttelte. »Versau sie nicht.«
Sie war froh, als Halbvier-Erik ihr Büro endlich wieder verlassen hatte und sie sich weiter ihrer Arbeit widmen konnte.
Die Frau, die am späten Vormittag ihr Büro betrat, war in den Dreißigern,
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