Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
gut. Wenn ich eine Genehmigung bekomme, baue ich das Sommerhaus am Helgasee zu unserem Wohnhaus um, Elsa plant schon seit Jahren den Garten. Meine Pension werde ich in eine erstklassige Anglerausrüstung investieren. Wusstest du, dass man für eine gute Rolle mehr als 3000 Kronen hinlegen muss? Und erst die Ruten ...«
»Hör auf mit dem Blödsinn!«, rief sie.
»Ingrid, ich versuche nur, es leichter zu machen.«
»Ich weiß. Entschuldige.«
Wieder suchte er ihren Blick, und wieder wich sie ihm aus. Stattdessen beobachtete sie weiterhin die Staubstrahlen, die im Raum standen.
»Du wirst übernehmen, Ingrid.«
Sie entgegnete nichts.
»Du bist die Einzige, die infrage kommt, niemand weiß das besser als du selbst. Du hast die Erfahrung, die Kompetenz, jeder im Team akzeptiert dich. Früher oder später wäre es sowieso darauf hinausgelaufen. Jetzt ist es halt früher geworden.«
Die Tür öffnete sich, und ein Pfleger kam mit Kaffee und einer Vase für die Blumen herein. Sie wartete, bis der junge Mann den Raum verlassen hatte. Draußen hatte sich das Licht verändert. Die Wintersonne warf jetzt blasse Muster auf die Wände des Zimmers, der Staub war verschwunden. Der Kaffee schmeckte wässrig, trotz privater Krankenzusatzversicherung; vielleicht war ihr aber auch einfach nicht nach Kaffee.
»Was ist mit Anette? Ich weiß, dass sie sich auf die Stelle bewerben wollte. Perspektivisch.«
Berg schnaubte.
»Sie hätte keine Chance gehabt. Weder gegen dich noch gegen externe Bewerber. Ihr fehlt die Erfahrung, und sie neigt zum Jähzorn. Du nimmst niemandem etwas weg, Ingrid. Nicht mir und erst recht nicht Anette Hultin.«
Die Muster waberten an der Wand. Endlich sah sie ihn an.
»Ich habe es mir immer anders vorgestellt, weißt du? Deinen Ruhestand. Irgendwie als etwas Fröhliches, Nettes. Eine Art Feier, auf der wir alle Hütchen tragen und singen und Scherze machen. Weiter habe ich nie gedacht. Und jetzt ... ganz vorne stehen ... Ich weiß nicht, ob ich das so plötzlich kann. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich das überhaupt will.«
Sie war aufgestanden und ans Fenster getreten. Von hier oben konnte man über den Växjösee hinweg bis zur Schwimmhalle sehen. Obwohl die Temperatur seit Tagen über null lag, war die Eisdecke auf dem See noch geschlossen. Ein einsamer Schlittschuhläufer zog seine Bahnen, seine Arme pendelten regelmäßig wie ein Metronom. Mit einem Mal fröstelte es sie. Der Winter war noch lange nicht vorbei. Sie drehte sich um und setzte sich wieder auf den Stuhl neben Bergs Bett.
»Es ist nur, dass es so plötzlich kommt. Es fühlt sich falsch an. Dass ich auf deinen Platz rücke, während du hier liegst. Weil du hier liegst.«
Sie hatte nach seiner Hand gegriffen.
»Wegen eines verdammten Wildschweins«, flüsterte sie.
»Es sind verdammte Biester«, sagte er leise und drückte ihre schmale Hand. Seine Haut fühlte sich an wie Sandpapier.
3
Er schaltete die Scheinwerfer aus und ließ den Wagen die letzten Meter im Leerlauf auf die Lichtung zwischen den Baumreihen rollen. Die Nacht war sternenklar, und nur vereinzelte Wolkenfetzen spiegelten sich in den Lachen, die sich zwischen den hartnäckigen Schneeresten in den Furchen des Waldwegs gebildet hatten. Lange blieb er in der Geborgenheit des Autos sitzen und starrte durch die Windschutzscheibe in die Schattenwelt, die sich in hohen Konturen vor dem Himmel abzeichnete. Ich sitze hier und starre wie ein Habicht, dachte er, und der Gedanke an den Raubvogel gefiel ihm. Minute um Minute blieb er so sitzen, bemüht, jeden Moment der Spannung und der Vorfreude auszukosten. Oft war er hier gewesen in all den Jahren, und nie hatte er den Ort ohne seine Beute wieder verlassen. Und auch heute würde es nicht anders sein, obwohl heute ein besonderes Mal war, denn heute war das letzte Mal, so hatte er es versprochen, das allerletzte Mal.
4
Am Morgen stand Ingrid Nyström lange vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer und überlegte, was sie anziehen sollte. Schließlich entschied sie sich für einen dunkelblauen Hosenanzug und eine weiße Bluse. Normalerweise trug sie dieses Ensemble nur bei Familienfeiern oder in der Kirche. Anders, ihr Mann, machte beim Frühstück darüber einen Witz, aber was wusste er als Pastor schon von Berufskleidung? Wenn er nicht gerade den Gottesdienst hielt, trug Anders ausgebeulte, beige Cordhosen.
Nach dem Frühstück fuhr sie bei ihrer jüngsten Tochter Anna vorbei, um sich die Haare schneiden zu lassen. Zu ihrer
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