Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
klein gewachsen und hatte ein auffallend schmales, mit Sommersprossen übersätes Gesicht, das von einem Wust rotbrauner Locken umrahmt wurde, der auf der Stirn zu einem schräg geschnittenen Pony gestutzt war. Das schiefe Lächeln ihres leuchtend rot geschminkten Mundes und der Umstand, dass ihr linkes Augenlid ein wenig zu weit nach unten hing, verstärkten den Eindruck von Asymmetrie im Gesicht der jungen Frau, dennoch wirkte sie auf Nyström nicht unattraktiv. Zu ihren weiten, schlaghosen-artigen Jeans, unter denen die abgerundeten Kappen teuer aussehender Pumps hervorlugten, trug sie eine knapp geschnittene, grasgrüne Trainingsjacke mit blauen Bündchen, die auch einer Elfjährigen gepasst hätte. Auf der schmalen Brust formten ausgeblichene Buchstaben den Schriftzug Reinickendorfer Füchse . Das Rot des Nagellacks auf ihren kurzen Fingernägeln war sowohl auf den Lippenstift als auch auf das Leder ihrer Schuhe und die münzgroßen Ohrringe abgestimmt, die bei jeder Bewegung zwischen ihren Locken schimmerten. Nichts an dieser Frau sah nach einer Kriminalbeamtin aus, trotzdem dokumentierte die Akte auf Nyströms Schreibtisch eine eindrucksvolle Karriere bei der Berliner Kriminalpolizei, einschließlich des Einsatzes in verschiedenen Mordkommissionen.
»Ich bin Stina Forss.« Ihr Lächeln wurde noch ein bisschen schiefer. »Eigentlich habe ich einen Termin bei Hauptkommissar Gunnar Berg, aber der Mann am Empfang hat mich zu dir geschickt. Heute ist hier mein erster Tag.«
Nyström war aufgestanden. Die beiden Frauen gaben sich die Hand.
»Willkommen. Ich bin Hauptkommissarin Ingrid Nyström. Heute ist auch mein erster Tag, gewissermaßen.«
Nyström lächelte, dann bat sie Forss, Platz zu nehmen. Sie berichtete von Bergs Unfall und den personellen Veränderungen im Revier, dann sprach sie über die allgemeinen Aufgabenbereiche der Abteilung, die Entwicklung der Kriminalität in Växjö und der Region Kronoberg und die zukünftigen Einsatzschwerpunkte der neuen Mitarbeiterin. Stina Forss war dem Kommissariat in Växjö für ein Anerkennungsjahr zugeteilt worden, an dessen Ende ihr die Reichspolizeibehörde eine dauerhafte Übernahme in den schwedischen Polizeidienst in Aussicht gestellt hatte. Neue EU-Richtlinien machten solche Programme möglich. Forss würde während dieses Jahres sowohl auf der Polizeidienststelle arbeiten als auch an zwei Tagen in der Woche Seminare an der Polizeihochschule in Växjö besuchen müssen. Zum Abschluss des Gespräches führte Nyström Forss durch das Präsidium und stellte sie ihren neuen Kollegen vor. Als ersten Ansprechpartner für Forss hatte Nyström Hugo Delgado ausgesucht. Er hatte eine ruhige, gelassene Art und war gut darin, Dinge zu erklären, außerdem war er etwa im selben Alter wie die junge Deutschschwedin. Während sich die beiden in ein Fachgespräch über Datenbanken vertieft zum Mittagessen Richtung Kantine aufmachten, hatte Nyström zum ersten Mal an diesem Tag ein gutes Gefühl. Vielleicht war es gar nicht so schwer, eine gute Chefin zu sein. Man musste nur delegieren können.
Als sie sich gegen halb sieben dazu durchrang, Feierabend zu machen, hatte sich längst Dunkelheit über die Stadt gelegt. Sie sah aus dem Fenster ihres Büros. Vor dem Eingang des Kinos stand ein Grüppchen von Jugendlichen im Nieselregen und rauchte, auf dem petroleumgelb beleuchteten Parkplatz vor dem Präsidium lagen zwischen den Haltebuchten Inseln aus schmutzigem Schnee. Das Wiegen der blattlosen Weiden zeigte Westwind an. Sie hatte seit vielen Stunden nichts mehr gegessen, jetzt war sie hungrig und müde. Sie stopfte mehrere Ordner in ihre Umhängetasche. Nach dem Abendessen würde sie weiterarbeiten, wenn sie vorher nicht auf dem Sofa einschlief. Als es an der Tür klopfte, schrak sie hoch. Sie war davon ausgegangen, dass alle Kollegen bereits vor ihr gegangen waren. Zu ihrer Überraschung war es Stina Forss, ihre grüne Trainingsjacke hob sich grell von der dunklen Holzvertäfelung des Flurs ab.
»Störe ich? Du siehst aus, als wolltest du gerade gehen.«
»Wollte ich auch. Macht aber nichts. Komm rein. Was kann ich für dich tun?«
»Es ist so ... Ich habe da noch eine Frage, dienstlicher Natur.«
Nyström fiel auf, wie sauber das Schwedisch der jungen Frau klang. Die vielen Jahre in Deutschland hatten keine Spuren hinterlassen. Jedenfalls nicht in der Sprache.
»Worum geht es?«
Forss antwortete nicht sofort, stattdessen rieb sie ihr rechtes Ohrläppchen mit Daumen
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