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Rousseau's Bekenntnisse

Rousseau's Bekenntnisse

Titel: Rousseau's Bekenntnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Jacques Rousseau
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fand. Am folgenden Tage sprach man bei der Tafel von Musik; er sprach gut darüber. Es machte mir große Freude zu hören, daß er auf dem Klaviere begleite. Nach Tische ließ man Noten bringen. Wir musicirten den ganzen Tag auf dem Klaviere des Prinzen; und so begann diese Freundschaft, die mir bei ihrem Anfange so angenehm und bei ihrem Ende so verhängnisvoll war, und von der ich von nun an noch so viel werde zu sagen haben.
    Bei meiner Rückkehr nach Paris vernahm ich die angenehme Nachricht, daß Diderot aus dem Thurme entlassen wäre und man ihm das Schloß und den Park von Vincennes zum Gefängnis auf Ehrenwort angewiesen hätte, zugleich mit der Erlaubnis, seine Freunde bei sich zu sehen. Wie schwer es mir fiel, nicht auf der Stelle hineilen zu können! Aber bei Frau Dupin zwei oder drei Tage durch dringend nothwendige Arbeiten zurückgehalten, flog ich nach drei oder vier Jahrhunderten der Ungeduld in die Arme meines Freundes. Unaussprechlicher Augenblick! Er war nicht allein; d'Alembert und der Schatzmeister von Saint-Chapelle waren bei ihm. Beim Eintreten gewahrte ich nur ihn; mit einem lauten Aufschrei eilte ich auf ihn zu; ich lehnte mein Gesicht gegen das seine, drückte ihn fest an mich und redete nur durch meine Thränen und mein Schluchzen zu ihm; ich erstickte fast vor Zärtlichkeit und Freude. Seine erste Bewegung, nachdem er sich meinen Armen entwunden hatte, war, sich an den Geistlichen zu wenden und zu ihm zu sagen: »Sie sehen, mein Herr, wie meine Freunde mich lieben.« Noch in voller Erregung dachte ich über diese Art, daraus Nutzen zu ziehen, damals nicht nach; aber wenn ich später bisweilen daran dachte, bin ich stets der Ansicht gewesen, daß mir an Diderots Stelle dieser Gedanke nicht zuerst gekommen wäre. Ich fand ihn von seiner Gefangenschaft sehr angegriffen. Der Thurm hatte einen schrecklichen Eindruck auf ihn gemacht; und obgleich es ihm im Schlosse ganz gut erging und er in einem nicht einmal mit Mauern umschlossenen Parke frei spazieren gehen konnte, so hatte er doch die Gesellschaft seiner Freunde nöthig, um nicht in Trübsinn zu versinken. Da ich sicherlich am meisten Antheil an seinem Kummer nahm, so glaubte ich auch, daß ihm mein Anblick am trostreichsten sein müßte, und trotz sehr dringender Beschäftigungen ging ich deshalb spätestens jeden zweiten Tag entweder allein oder mit seiner Frau nach Vincennes, um den Nachmittag mit ihm zuzubringen.
    Dieses Jahr 1749 zeichnete sich durch eine ungewöhnliche Hitze aus. Von Paris nach Vincennes rechnet man zwei Wegstunden. Nicht gut im Stande, Droschken zu bezahlen, machte ich mich, wenn ich allein war, nachmittags zwei Uhr auf den Weg und ging schnell, um früher anzukommen. Die Bäume am Wege, nach Landessitte stets ausgeästet, gaben fast keinen Schatten, und von Hitze und Müdigkeit ermattet, legte ich mich oft, wenn ich nicht weiter konnte, der Länge nach auf die Erde. Um meinen Schritt zu mäßigen, gerieth ich auf den Einfall, irgend ein Buch mitzunehmen. Eines Tages nahm ich den französischen Merkur, und ihn beim Wandern überfliegend, fiel mir die von der Akademie zu Dijon für das nächste Jahr aufgestellte Preisfrage in die Augen, »ob der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zum Verderben oder zur Veredelung der Sitten beigetragen hat?«
    Beim ersten Durchlesen dieser Worte sah ich eine andere Welt vor mir und wurde ich ein anderer Mann. Obgleich ich eine lebhafte Erinnerung an den dadurch empfangenen Eindruck habe, sind mir die Einzelheiten desselben entschwunden, seitdem ich sie in einem meiner vier Briefe an Herrn von Malesherbes niedergeschrieben habe. Es ist eine der Eigenthümlichkeiten meines Gedächtnisses, die der Erwähnung verdient. Wenn es mir dient, so geschieht es nur, so weit ich mich darauf verlasse; sobald ich dagegen das im Gedächtnis Aufbewahrte zu Papier bringe, verläßt es mich; sobald ich etwas einmal aufgeschrieben habe, erinnere ich mich seiner gar nicht mehr. Diese Eigentümlichkeit macht sich auch in der Musik bemerkbar. Ehe ich sie lernte, wußte ich eine Menge Lieder auswendig; sobald ich verstand, Melodien nach Noten zu singen, habe ich kein Lied behalten können, und ich zweifle, daß ich von denen, die mir am liebsten waren, heute auch nur eine einzige ganz hersagen könnte.
    Wessen ich mich bei dieser Gelegenheit noch ganz deutlich erinnere, ist, daß ich mich bei meiner Ankunft in Vincennes in einer wahnsinnartigen Aufregung befand. Diderot nahm sie wahr; ich sagte ihm die

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