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Rubinrot

Rubinrot

Titel: Rubinrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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Tragödie. Seitdem ist der Mann wie verwandelt.«
    »Robert.«
    »Genau, der Kleine hieß Robert«, sagte Mrs Jenkins. »Hat Mr George dir schon von ihm erzählt?« »Nein.«
    »Ein goldiges Kerlchen. Er ist bei einer Geburtstagsfeier im Pool von Bekannten ertrunken, das muss man sich mal vorstellen.« Mrs Jenkins zählte die Jahre im Gehen an ihren Fingern ab. »Achtzehn Jahre ist das jetzt schon her. Der arme Doktor.«
    Der arme Robert. Aber wenigstens sah er nicht wie eine Wasserleiche aus. Manche Geister machten sich ja einen Spaß daraus, so herumzulaufen, wie sie gestorben waren. Glücklicherweise war ich noch nie einem begegnet, der ein Beil im Kopf hatte. Oder gar keinen Kopf.
    Mrs Jenkins klopfte an eine Tür. »Wir machen einen kleinen Zwischenstopp bei Madame Rossini. Sie muss dich vermessen.«
    »Vermessen? Wofür?« Aber das Zimmer, in das Mrs Jenkins mich schob, gab mir bereits die Antwort: Es war eine Nähstube und inmitten der Stoffe, Kleider, Nähmaschinen, Schneiderpuppen, Scheren und Garnrollen lachte mir eine rundliche Frau mit üppiger rotblonder Haarpracht entgegen.
    »Willkommen«, sagte sie mit französischem Akzent. »Du musst Gwendolyn sein. Ich bin Madame Rossini und kümmere mich um deine Garderobe.« Sie hielt ein Maßband in die Höhe. »Schließlich können wir dich
anno dazumal
nicht in dieser schrecklichen Schulüniform herumlaufen lassen, n'est-ce pas?«
    Ich nickte.
Schulüniformen,
wie Madame es aussprach, waren wirklich
schrecklisch,
egal in welchem Jahrhundert.
    »Wahrscheinlich gäbe es einen Volksauflauf, wenn du dort so auf die Straße gingest«, sagte sie und rang die Hände. Mitsamt Maßband.
    »Wir müssen uns leider beeilen, sie warten oben auf uns«, sagte Mrs Jenkins.
    »Ich mache ganz schnell. Kannst du bitte die Jacke ausziehen?« Madame Rossini schlang das Maßband um meine Taille. »Wunderbar. Und jetzt die Hüften. Oh, wie ein junges Fohlen. Ich denke, wir können vieles, was ich für die andere vorbereitet hatte, übernehmen, vielleicht mit kleinen Änderungen hier und da.«
    Mit »die andere« war sicher Charlotte gemeint. Ich betrachtete ein zartgelbes Kleid mit weißem, durchsichtigem Spitzenbesatz, das an einem Kleiderständer hing und aussah wie aus dem Kostümfundus von
Stolz und Vorurteil.
Charlotte hätte sicher ganz entzückend darin ausgesehen.
    »Charlotte ist größer und schlanker als ich«, sagte ich.
    »Ja, ein bisschen«, sagte Madame Rossini. »Der Hungerhaken.« (Sie sagte »'ünger'aken« und ich musste ein bisschen kichern.) »Aber das ist gar kein Problem.« Sie legte das Maßband auch um meinen Hals und um meinen Kopf. »Für Hüte und Perücken«, sagte sie und lachte mich an. »Ach, wie nett, zur Abwechslung mal für eine Brünette zu schneidern. Bei Rothaarigen muss man mit den Farben immer so vorsichtig sein. Ich habe da schon seit Jahren dieses herrliche Stück Taft, eine Farbe wie die untergehende Sonne. Du könntest die Erste sein, der diese Farbe steht. . .«
    »Madame Rossini,
bitte!«
Mrs Jenkins zeigte auf ihre Armbanduhr.
    »Jaja, gleich fertig«, sagte Madame Rossini, wobei sie mit dem Band um mich herumwirbelte und sogar meine Fesseln ausmaß. »Immer haben sie es so eilig, diese Männer! Aber Mode und Schönheit sind nun mal kein hastiges Geschäft.« Schließlich gab sie mir einen freundlichen Klaps und sagte: »Bis später, Schwanenhälschen.«
    Sie selber hatte gar keinen Hals, fiel mir auf. Ihr Kopf schien direkt auf ihren Schultern zu sitzen. Aber sie war wirklich nett. »Bis später, Madame Rossini.«
    Wieder draußen, fiel Mrs Jenkins in Laufschritt und ich hatte Mühe, ihr zu folgen, obwohl sie Schuhe mit hohen Absätzen trug und ich meine bequemen, etwas plumpen dunkelblauen Schultreter.
    »Gleich haben wir es geschafft.« Wieder erstreckte sich ein endlos langer Korridor vor uns. Es war mir ein Rätsel, wie man sich in diesem Labyrinth auskennen konnte. »Wohnen Sie hier?«
    »Nein, ich wohne in Islington«, sagte Mrs Jenkins. »Um fünf habe ich Feierabend. Dann fahre ich zu meinem Mann nach Hause.«
    »Was sagt denn Ihr Mann dazu, dass Sie für eine Geheimloge arbeiten, die in ihrem Keller eine Zeitmaschine stehen hat?«
    Mrs Jenkins lachte. »Oh, das weiß er gar nicht. Ich habe einen Schweigepassus im Arbeitsvertrag unterschrieben. Ich darf weder meinem Mann noch irgendjemandem sonst verraten, was hier geschieht.«
    »Sonst?«
Wahrscheinlich verfaulten in diesen Gemäuern schon jede Menge Gebeine schwatzhafter

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