Rubinrotes Herz, eisblaue See
Ordnung?«, fragte er jeden Tag. »Brauchst du irgendwas?«
»Mir geht’s gut«, erwiderte ich. Wir unterhielten uns eine Weile in der Küche, dann sagte er: »Tja, ich muss rüber. Du kannst gerne zum Abendessen kommen. Stella würde sich freuen.«
Das bezweifelte ich, aber ich ging nicht darauf ein. »Ich hab noch Reste von gestern, Daddy, aber trotzdem danke.«
Die Schule hatte auch bei ihm angerufen. »Vielleicht lenkt es dich ja ein bisschen von Grand ab. Es hilft, sich zu beschäftigen. Sie wäre die Erste, die dir das sagen würde.«
»Ich gehe bald wieder hin«, log ich.
An einem Mittwochabend im Dezember sah ich mir gerade die Nachrichten an, als jemand mit dem Fuß gegen die Haustür donnerte. Ich zuckte zusammen, dann rief eine Stimme: »Ich bin’s, Bud.«
Ich machte ihm die Tür auf, und er kam mit einem großen Kochtopf in den Händen herein.
»Ma hat Muscheln gekocht«, sagte er. »Und zwar viel zu viele. Sie wollte sie nicht wegwerfen, deshalb meinte sie, ich sollte sie dir rüberbringen, falls du welche davon möchtest. Mit viel Butter und Knoblauch und einem Schuss Wein. Sind ziemlich lecker.«
Ich war schon so lange nicht mehr hungrig gewesen, dass ich vergessen hatte, wie sich das anfühlte. »Nett von ihr«, sagte ich. Er drückte mir den Topf in die Hand.
»Willst du einen Moment bleiben?«, fragte ich.
»In Ordnung. Aber ich muss gleich Susan abholen. Sie will mit mir ins Kino.«
»Wie geht’s ihr?«
»Gut.«
Ich stellte den Topf auf die Arbeitsfläche in der Küche. »Setz dich«, sagte ich.
Er ließ sich auf einem Küchenstuhl nieder, stand jedoch sofort wieder auf. »Ach, fast hätte ich’s vergessen.« Er griff in die Gesäßtasche seiner Flanellhose. »Magst du?«, fragte er und hielt mir eine Zitrone hin. In seiner dunklen, schwieligen Hand leuchtete sie wie ein Stück Sommersonne.
Als ich die Zitrone nahm, streiften meine Finger Buds Haut. Die Frucht war warm vom Aufenthalt in seiner Tasche, und ich legte beide Hände darum.
»Du solltest die Muscheln essen, bevor sie kalt werden«, sagte Bud.
»Mache ich. Sag Ida vielen Dank.«
Er steuerte auf die Tür zu, drehte sich jedoch noch einmal um. »Ich hab ganz vergessen, dir von dem alten Mann aus dem Krankenhaus zu erzählen. Erinnerst du dich? Seine Frau war gestorben, und er wusste nicht, was er tun sollte. Bert hat sich darum gekümmert, dass er Hilfe bekommt. Er ist jetzt versorgt.«
»Das ist gut.«
»Ma hat gesagt, du brauchst den Topf nicht abzuwaschen.« Und dann war er fort.
Ich warf die leuchtende Zitrone eine Weile von einer Hand in die andere und dachte daran, dass Gelb Carlies Lieblingsfarbe gewesen war. Ich biss in die Schale, und der Duft kitzelte mich in der Nase. Dann schnitt ich sie in der Mitte durch und drückte sie über den Muscheln aus. Ich aß alles auf. In der Nacht träumte ich von Gold und von Zitronen. Von Leuten, die in die Sonne davongingen. Von Buds Händen.
Gegen elf Uhr am nächsten Morgen, als ich noch tief und fest schlummerte, hämmerte jemand an die Tür.
»Florine?«
Stellas Stimme fraß sich durch die sechs Deckenschichten, unter denen ich mich vergraben hatte, und als ich darunter hervorlugte, sah ich sie im Schlafzimmer stehen. Auf der weißen Schürze, die sie im Laden immer trug, waren Fettflecken. Sie sah halb durchgedreht aus.
»Was machst du denn hier?«, fragte ich.
»Ich gehe runter, und ich will, dass du auch kommst«, sagte sie und verschwand.
Wofür hielt die sich? Ich verkroch mich wieder unter der Decke.
»Florine«, rief sie vom Fuß der Treppe. »Ich gehe nicht hier weg, bis du runterkommst. Ich mein’s ernst. Je eher du runterkommst, desto eher bist du mich wieder los.«
Das war ein Grund aufzustehen. Ich schwang meinen Hintern aus dem Bett, zog Carlies altes Popham-Beach-Sweatshirt und eine schmuddelige Jeans an, ging ins Bad und pinkelte. Ich fuhr mit den Fingern durch mein zerzaustes Haar, dann band ich es mit einem Gummi zusammen. Ich überlegte, ob ich mir die Zähne putzen sollte, aber da ich sowieso gleich Tee trinken würde, ließ ich es bleiben und ging nach unten. Der Wasserkessel pfiff bereits. »Was ist los?«
»Setz dich«, sagte sie. »Ich will mit dir reden.«
»Ist mit Daddy alles in Ordnung?«, fragte ich und blieb stehen.
»Was denkst du denn?«
»Als er gestern Abend hier war, sah er okay aus.«
»Ja, natürlich.« Stella stellte zwei Becher auf den Tisch und setzte sich. Ich ging zum Kühlschrank und nahm die Milch
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