Rubinrotes Herz, eisblaue See
hältst du das Haus warm?«, fragte ich.
»Der Kamin strahlt jede Menge Hitze ab. Ich schlafe direkt davor. Wie geht’s deiner Familie?«
Ich blinzelte. Es war seltsam, dass jemand nicht alle Einzelheiten über meine Familie wusste. Ich entschied mich für die Kurzfassung. »Meine Mutter ist verschwunden. Grand ist vor knapp zwei Monaten gestorben. Daddy lebt mit Stella zusammen, der Kassiererin aus Rays Laden. Ich hab die Schule geschmissen und wohne in Grands Haus.«
Andy ignorierte das mit Carlie und ging direkt zu Grand über. »Deine Großmutter ist gestorben?« Seine Stimme klang traurig. »Sie hat mir jahrelang Pullover gestrickt. Ich habe jedes Jahr zu Weihnachten einen bekommen. Mutter hat sie immer in Auftrag gegeben. Tut mir leid für dich.«
Ich nickte.
»Und du hast deine Mutter verloren?«, fragte er. »Ja, sie ist in dem Sommer verschwunden, als das mit den Knallern war.«
»Einfach so - puff?«
»Ja«, sagte ich. So hatte es noch niemand ausgedrückt. Puff.
»Tut mir leid«, sagte Andy. Wir sahen uns einen Moment an. Ich beobachtete sein Gesicht, das sich von Sekunde zu Sekunde veränderte.
Dann fragte er: »Und die anderen, sind die noch hier? Das pummelige Mädchen und der pummelige Junge? Und der dünne Kerl, der ins Wasser gesprungen ist und das Geld meines Vaters vorm Ertrinken gerettet hat?«
»Unsereins geht nicht weit weg.«
»Was machst du den ganzen Tag, wenn du die Schule geschmissen hast?«
»Stricken. Backen. Putzen. Ich hab genug zu tun.«
»Egal, was du tust, ich bin sicher, es wird gut«, sagte Andy. »Du bist bezaubernd.«
Bezaubernd. Genau wie sein Vater. Ich konnte förmlich hören, wie Mr. Barrington zu Andy sagte: »Junge, sag ihnen, sie sind bezaubernd. Damit kriegst du sie alle rum.« Und um ehrlich zu sein, es stimmte. Es war einfach ein - nun ja - bezauberndes Wort. Andys Blick ließ das ganze Blut in meinem Körper in mein Gesicht schießen. Ich berührte meine Wangen, um mich zu vergewissern, dass sie nicht in Flammen standen.
»Ich mein’s ernst. Du bist wirklich eine gut aussehende Frau«, sagte Andy. »Hast du einen Freund?«
»Im Moment nicht.«
»Ich weiß, es ist kalt im Haus, aber könntest du dir vorstellen, heute Abend zum Essen zu mir zu kommen? Es ist sehr still hier, und ich fände es schön, Gesellschaft zu haben.«
Als ich nicht sofort antwortete, weil ich noch darüber staunte, dass ich gerade meine erste Einladung zu einem Date bekommen hatte, fügte er hinzu: »Du kannst die anderen mitbringen, wenn du willst.«
Das verwirrte mich. Wollte er, dass sie auch kamen? Oder wollte er mit mir allein sein? »Die haben vermutlich schon was anderes vor«, sagte ich.
Sein Lächeln vertiefte sich. »Gut. Also um halb sechs?«
Um die Zeit kamen die Leute von der Arbeit und aus der Schule. Sie würden sehen, wie ich zum Wald raufging, und sich fragen, was ich vorhatte. Das hier wollte ich für mich haben. Die anderen brauchten nichts davon zu wissen. »Lieber später«, sagte ich. »So gegen halb sieben?«
»Okay.« Er gab mir erneut die Hand. Seine Augen funkelten wie Sterne, als er meine Hand an seine Lippen hob, die mich auf einmal an die seines Vaters erinnerten, und einen Kuss daraufhauchte. Sein Atem bildete kleine weiße Wolken, die in den blauen Himmel hinaufschwebten.
Als ich durch den Wald nach Hause ging, fiel mir auf, dass der Winter nicht sämtliche Farben verschluckt hatte. Rote Beeren hingen an den Sträuchern, die in verschiedenen Brauntönen gestaffelt waren. Durch die dünne Schneeschicht lugte dunkelgrünes Moos. Blaugrüne Fichtennadeln streiften mein Gesicht. Über mir wölbte sich die Weite des blauen Himmels. Ich fühlte mich so leicht, dass ich über die Schulter blickte, um zu sehen, ob meine Spuren im Schnee überhaupt zu erkennen waren.
Zu Hause war es still. Die Uhr tickte, ein Wasserhahn tropfte, der Ofen bullerte vor sich hin, und die Wärme stieg durch den Rost im Wohnzimmerfußboden hoch. Ich stellte mich darüber und spürte, wie sie langsam bis in meine Knochen drang. Dann zog ich Mantel und Handschuhe aus und sah auf die Uhr. Es war zwölf. Was zum Teufel sollte ich bis halb sieben machen?
Um einen Teil der Zeit herumzukriegen, zog ich mich ganz aus und stellte mich nackt vor den Spiegel in Grands Schranktür. Hoch sitzende Minibrüste mit radiergummirosa Brustwarzen. Eckige Hüften. Rötlich braunes Schamdreieck. Bauchnabel mit einem kleinen braunen Muttermal im Norden. Langer Hals. Sommersprossen vom
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