Rubinrotes Herz, eisblaue See
wohl nicht gut genug gewesen. Die Werkstatt war makellos sauber. Auch das war vermutlich Stellas Werk.
Ich öffnete die neue Tür und ging ins Wohnzimmer. Es war ein paar Monate her, seit ich das letzte Mal hier gewesen war, und in der Zeit hatte Stella einiges verändert. Zwei neue Sessel und ein Sofa in dezentem Grün waren um einen Beistelltisch arrangiert. Auf dem Tisch, den wahrscheinlich Daddy gebaut hatte, lagen mehrere Frauenzeitschriften und dazwischen ein paar Fischermagazine. Daddys alter Sessel war zu der Ecke mit dem Fernseher gedreht, und daneben stand ein großer Schaukelstuhl mit gepolstertem Sitz.
Die Küche sah ziemlich unverändert aus, abgesehen davon, dass ich mich im Fußboden spiegeln konnte. Ich schaute in mein Zimmer. Den größten Teil meiner Sachen hatte ich mit zu Grand genommen, aber was von meinen Büchern und Spielsachen noch hier war, befand sich an seinem alten Platz.
Doch Stella hatte das Schlafzimmer in Besitz genommen und Carlies leuchtend gelbe Wände dunkelgrün gestrichen. Die Tagesdecke und die Vorhänge waren auch neu. An der Wand über dem Bett hingen Fotos von Stella und Daddy. Eines, wie sie Händchen haltend in einem Restaurant saßen und denjenigen, der das Foto gemacht hatte, über den Tisch hinweg angrinsten. Dann die beiden in Rays Laden, Daddy an der Lebensmitteltheke und Stella, die sich mit gespitzten Lippen über die Theke beugte, um ihn zu küssen. Und ein Bild von Stella in einem schwarzen Badeanzug, wie sie sich auf dem Heck unseres Bootes rekelte; ihre dünnen, bleichen Beine hingen über die Worte Carlie Flo.
Die Art, wie ihre Beine unsere Namen halb verdeckten, brachte mich in Rage. Ohne meinen Verstand um Erlaubnis zu fragen, griff meine Hand nach dem Bild. Ich ließ es auf den Boden fallen und trat mit dem Fuß darauf, dass das Glas zersplitterte. Dasselbe machte ich mit den beiden anderen Bildern. Ich riss die Decken und Laken vom Bett, öffnete das Fenster und warf alles hinaus in den Garten. Dann zerrte ich Stellas Kleider aus dem Schrank und aus Carlies Kommode und schleuderte sie auf den Fußboden.
Danach verließ ich das Haus auf demselben Weg, auf dem ich gekommen war, und lief zurück in den Wald.
»Das wird ihr eine Lehre sein«, sagte ich zu den Bäumen.
Ich nahm meine Bücher und mein Lunchpaket und ging durch das Naturschutzgebiet zu der Bank bei den Klippen. Ich sah auf die Timex-Uhr mit dem Stoffarmband, die Grand mir vor ein paar Jahren geschenkt hatte. Es war zehn Uhr. Die Schule ging bis halb drei.
Umso mehr Zeit, die ich hier verbringen kann, dachte ich.
»Solltest du nicht in der Schule sein?«, sagte plötzlich eine strenge Männerstimme hinter mir.
Ich drehte mich um. Vor mir stand ein Ranger. Er hatte die Stirn so in Falten gelegt, dass er aussah wie eine zerrupfte Eule. Er trug eine Nickelbrille mit dicken Gläsern, und sein hellbraunes Haar stand nach allen Seiten ab. Seine riesigen braunen Augen sahen aus, als wären sie daran gewöhnt, ins Dickicht und ins Geäst der Bäume zu spähen. Auf seinem Namensschild stand »Dickie«. Er lächelte nicht. »Wenn ich mich nicht irre, solltest du in der Schule sein. Du hast deine Schuluniform an und deine Bücher dabei. Du schwänzt doch nicht etwa, oder?«
Ich hatte Bauchschmerzen, und ich fragte mich, ob Grand versehentlich ein paar schlechte Äpfel in ihren Kuchen getan hatte. Ich beschloss, die Wahrheit zu sagen. »Ja, ich sollte in der Schule sein. Ich schwänze, weil heute so ein schöner Tag ist. Ich habe es noch nie zuvor getan und werde es auch nie wieder tun.«
Dickie musterte mich misstrauisch. »Das verstößt gegen das Gesetz.«
»Na gut«, sagte ich. »Dann gehe ich jetzt nach Hause und zeige mich an.«
»Du SOLLTEST nach Hause gehen«, sagte Dickie. »Aber ich vermute mal, du bleibst hier und gehst erst dann nach Hause, wenn der Bus kommt.«
»Nein«, log ich. »Ich gehe sofort nach Hause.«
»Das will ich hoffen. Und wehe, ich erwische dich hier noch mal an einem Schultag.«
Damit machte er kehrt und verschwand über den Wanderweg. Seine schweren Stiefel knirschten auf dem harten Boden. Ich ging ebenfalls los. Zusätzlich zu dem unbehaglichen Flattern, das sich in meinen Eingeweiden eingenistet hatte, plagten mich immer wieder Krämpfe.
Doch ich konnte jetzt nicht nach Hause gehen. Ich war Carlies kleine Verbrecherin, und ich hatte etwas ausgefressen. Also bog ich auf den Seitenpfad ein, der zu den Sommerhäusern führte. Ich würde mir irgendwo am Waldrand
Weitere Kostenlose Bücher