Toedlicher Irrtum
1
Las Vegas litt unter der Augusthitze. Bei Nachttemperaturen von über 37 Grad blieben die Einheimischen lieber in ihren klimatisierten Häusern. Draußen am Las Vegas Boulevard vor dem Treasure Island sorgte eine elektronisch gesteuerte Sprinkleranlage für einen feinen, kühlenden Nebel, der sich über den Menschen ausbreitete, die zusahen, wie Piraten sich gegenseitig umbrachten. Wo aber der Sprühnebel aufhörte und der Schweiß anfing, konnte keiner sagen.
Während der abendlichen Lightshow an der Fremont Street verzogen sich viele der Touristen in eines der klimatisierten Casinos entlang der Fußgängerzone. Es machte keinen Spaß Sinatra zuzuhören, wie er das Glück als Lady besang oder sich den Hals zu verrenken, um den gigantischen elektrischen Würfeln zu folgen, wenn sich auf der Haut und in den Augen kleine Pfützen salzhaltigen Schweißes sammelten.
Selbst die Tiere in der Wüste rund um die Stadt kauerten sich auf den Boden und suchten nach Orten, an denen es sich aushalten ließ. Die Kojoten blieben ruhig, waren zu ausgedörrt, um zu heulen, und sogar die Schlangen suchten unter den Steinen Zuflucht. Geschützt vor der sengenden Wüstenluft rollten sie sich in ihren Verstecken zusammen, als wollten sie nun doch endlich die Schuld an der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies anerkennen.
Bei Tag, wenn die Hitze am schlimmsten war und die Temperatur 43 Grad überstieg, schleppten sich nur noch Touristen mit der Verbissenheit von Pauschalurlaubern über den Strip: Wir haben für dieses Freizeitpaket bezahlt, und bei Gott … Schweißüberströmt und zunehmend neurotisch fragten sie sich, wie sie plötzlich im neunten Kreis der Hölle landen konnten, wo sie doch zu einer Oase aufgebrochen waren. Diese nicht abzubrechen scheinende Menschenmenge kleidete sich in grelle T-Shirts, Bermudashorts und dunkle Socken in Sandalen. Die Mühsal jeden Schrittes spiegelte sich in ihren Gesichtern wider.
Captain Jim Brass, der mit seinem Wagen im Stau stand, konnte diese Qualen nachvollziehen, obwohl er seine Klimaanlage auf voller Stärke eingestellt hatte. Die kühle Luft im Innenraum hatte seine pulsierenden Kopfschmerzen nicht verjagen können.
Brass hatte sein Sportjackett nicht ausgezogen, ein braunes Stück, das zusammen mit der gemusterten Krawatte seinen Sinn für modische Kleidung widerspiegelte. Der stämmige Mann mit dem kurzen braunen Haar und den melancholischen Gesichtszügen, hinter denen er seine Wachsamkeit wirkungsvoll verbarg, kämpfte beständig gegen den aufkeimenden Zynismus an – und meist gewann er. Doch das, was Brass in seinen beinahe fünfundzwanzig Jahren beim Las Vegas Police Department gesehen oder erlebt hatte, stellte ihn immer wieder auf eine harte Probe.
Wie üblich trieb die Sommerhitze die Verrückten aus ihren Löchern – die einheimischen wie auch die zugereisten. Der August war noch nicht einmal halb vorbei, da hatten sich die Mordfälle im Vergleich zu den anderen Monaten bereits verdoppelt. Das LVPD hatte während der letzten zwei Jahre durchschnittlich zwölf Morde pro Monat untersucht – zu viel für ein Department, dem es an Mitarbeitern mangelte. Doch nun schien es, dass diese Grenze noch überschritten wurde.
Die Stadt kochte über und war kurz davor, inmitten dieses heißen Glutofens, den man Wüste nannte, zu explodieren.
Hinzu kamen die politischen Entwicklungen, denen Brass ausgesetzt war, und die ebenso unnachgiebig waren, wie die gleißenden Sonnenstrahlen über seinem Kopf.
Es war ein neuer Sheriff in der Stadt, dessen Auftreten allein die Gemüter erhitzte. Der frühere Sheriff, Brian Mobley, hatte nach seiner fehlgeschlagenen Bemühung um das Bürgermeisteramt seinen Rücktritt eingereicht. Mobley hatte sich in seinem Amt nie der größten Beliebtheit erfreut, und es gab nur wenige, die ihm nachweinten. Aber auch Sheriff Rory Atwater wurde nicht nur mit Freude erwartet, wenngleich er besser mit Menschen umzugehen verstand als sein Vorgänger. Atwater wollte die Flut der Morde eindämmen, und Brass hatte schon in den ersten Monaten, in denen dieser Sheriff im Amt war, gelernt was das bedeutete.
Beide Sheriffs waren gute, ehrliche Cops, aber jeder von ihnen war auch auf seine ganz eigene Art ein karrierebewusster Politiker. Mobley hatte stets den Eindruck eines High-School-Schlägers vermittelt, der sich verzweifelt bemühte, sich während des Schulsprecher-Wettbewerbs zu benehmen. Atwater dagegen war glatter, unangreifbarer, und so manch einer
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