Ruchlos
Machart ein angeschlagenes Emaillebecken. Die Arbeitsplatte war nachträglich und wenig fachmännisch angebracht worden. Unter dem Fenster stand ein kleiner, quadratischer Tisch mit zwei Stühlen. Alles sah sehr aufgeräumt und einladend aus.
»Was willst du?«, fragte Leon, der zu dem Kühlschrank in der Ecke gegangen war. »Der Ops hat aber nie was Leckeres.« Es klang entschuldigend, und ich war froh, dass seine Gastgeberpflichten den Jungen von den Geräuschen nebenan ablenkten.
»Zeig mal.« Der Kühlschrank wies für einen allein lebenden alten Mann eine erstaunliche Menge guter Lebensmittel auf, durch die Abdeckung eines Tellers hindurch konnte ich allerdings sehen, dass der Käse verschimmelt war. In der Seitentür standen ein paar Bier und eine Flasche Wodka.
Die Ärztin steckte ihren Kopf durch die Tür. »Wir sind dann weg. Um alles Amtliche kümmere ich mich. Wenn Sie …«, mit einer Kopfbewegung wies sie auf Leon.
Bevor ich antworten konnte, hörte ich die Wohnungstür ins Schloss fallen.
»Das ist zwar nicht lecker, aber jetzt das Richtige«, sagte ich und holte die Flasche Wodka aus dem Kühlschrank.
*
»Irgendwann kam dann die Mutter«, erzählte ich Andreas, der wie ein Häufchen Elend im Bett lag.
Seine Haut war bleich und durchsichtig, die grünen Augen glänzten fiebrig, die kurzen blonden Haare klebten am Kopf. Ich hatte Kräutertee gekocht und ihn überredet, wenigstens davon etwas zu trinken, nachdem er den ärztlich empfohlenen Elektrolyte-Trunk nicht mehr anrühren wollte, ihm mit einem feuchten Waschlappen das Gesicht abgerieben und von meinem Abend berichtet.
»Sie wohnt mit Leon einen Stock höher. Das hatte der Junge mir mittlerweile schon erzählt, aber ich konnte ihn ja nicht allein lassen.«
Andy nickte. Er hatte sich in den Kissen aufgerichtet und war bemüht, mir geistig zu folgen, ich sah jedoch, wie schwer es ihm fiel.
»Er ist sechs. Gerade eben in die Schule gekommen. Seit einem halben Jahr geht die Mutter dienstagabends zum Sport. Der Kleine konnte ja immer zu seinem ›Ops‹. Sein Name für den Urgroßvater, seit er klein war.«
Ich ließ den Blick durch unser Schlafzimmer schweifen, sah den kranken Andreas, der wieder in die Kissen hineingerutscht war, und dachte an den alten Herrn Wachowiak in seinem Original-Bauhausbett. Leons Mutter hatte ich nichts von dem unguten Gefühl gesagt, das mich beim Anblick ihres Großvaters befallen hatte. Sie war ohnehin ganz verstört gewesen.
Andys Augen waren schon wieder halb geschlossen. Ich gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
»Wahrscheinlich habe ich mir etwas eingebildet.«
*
Ich schlief schlecht in dieser Nacht und wachte schon im Morgengrauen wieder auf. Auf einmal wusste ich, woher ich den alten Herrn kannte: Er war häufig in der Redaktion gewesen, um uns auf irgendwelche Missstände aufmerksam zu machen. Ein sehr gebildeter, liebenswerter, aber mitunter auch nervtötender Zeitgenosse, so hatte ich ihn in Erinnerung. Kollegen hatten durchaus auch von ›dem Querulanten‹ gesprochen.
Andreas atmete noch tief und gleichmäßig neben mir. Der Wecker zeigte 6.15 Uhr. Leise schlüpfte ich aus dem Bett.
2. KAPITEL
Normalerweise käme ich nicht auf die Idee, kurz nach sieben Uhr morgens irgendwo anzuklingeln. Die Schule in Dresden begann aber bereits um halb acht – eine Qual für Eltern und Kinder, sagte jeder, der davon betroffen war. Also würde ich Leon später kaum antreffen.
Wahrscheinlich wurde es wieder ein herrlicher Tag, zu dieser Zeit war es jedoch noch kalt. Unwillkürlich zog ich die Schultern zusammen, als ich auf die Böhmische Straße trat, und schlug den Kragen meines Trenchcoats hoch. Dennoch blieb ich bei meinem Entschluss, mit dem Fahrrad zu fahren, wofür ich auf der Marienbrücke belohnt wurde: Auf dem Radweg konnte ich anhalten und den Anblick der historischen Kulisse von Dresdens Altstadt im Morgennebel genießen, über der Elbe ein Sonnenaufgang wie aus dem Bilderbuch.
Vor zwei Jahren, als ich mich als freie Journalistin versuchte, hatte ich für ein kleines Kulturmagazin eine Reihe Artikel über die verschiedenen Dresdner Stadtteile verfasst. Die Friedrichstadt, von der ich vorher kaum mehr als den Bahnhof und die Yenidze kannte, war einer der spannendsten. Das heutige Krankenhaus war ein Palast gewesen, der Napoleon und Richard Wagner beherbergt hatte. In dem Viertel war nicht nur Ludwig Richter geboren, hier hatten auch die später weltberühmten Maler der ›Brücke‹ gelebt. Es war
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