Ausgeblüht: Kriminalroman (Psycho-Krimi) (German Edition)
Kapitel 1
„Mama kommt nie wieder“, diesen Satz wiederholte Greta monoton wie ein Roboter. Permanent, einmal, zweimal, es nahm kein Ende. Als Olivia Mously durch die offene Haustür von Saskias Villa gekommen war, kauerte das Mädchen ängstlich mit starrem Blick auf dem Fußboden in einer Ecke des Wohnzimmers und sah trotz ihrer zwölf Jahre wie ein kleines Kind aus. Ihre Mutter war vor einem Tag verschwunden und in der Nacht nicht zurück gekehrt.
„Was redest Du, vielleicht ist die Mama bei einer Freundin .“ Olivia bückte sich zu Greta hinab, doch abwehrend streckte sich deren Hand ihr entgegen, und mit der rechten hielt sich Greta die Augen zu. „Nein, nein, die Mama kommt nie wieder“, sie knallte die Stirn gegen die Kante des Coachtisches, der vor ihr stand.
„Greta, hör auf !“ Olivia schob sich schützend vor den Tisch und schrie auf vor Schmerz. Greta hatte ihr ins Bein gebissen.
„Bist Du wahnsinnig?“ Entsetzt griff sie sich an die Wade und blickte in zwei dunkelbraune große Augen, die sie noch nie so gesehen hatte. Kalt und ohne jedes Mitgefühl.
„Tut mir leid“, murmelte es beiläufig aus dem fein geschwungenen Mund, dessen Lippen sich eng zusammenpressten.
„Tut Dir leid? Hallo, was ist los mit Dir? Wir sind Freundinnen, was hab’ ich Dir getan?“
„Nichts, ich muss jetzt gehen.“ Greta stand auf, ihr zierlicher dünner Körper zitterte in einem gelben Pullover mit verschmiertem Saum, voller Flecken, versifft und unansehnlich. Greta zupfte mit ihrer Hand am Stoff, es schien ihr unangenehm, so genau betrachtet zu werden. Ihre Fingernagelränder waren schwarz und abgeknabbert, der Dreck von mehreren Tagen hatte sich darunter versammelt. Jetzt blickte sie Olivia direkt ins Gesicht und grinste betont fröhlich, dabei fiel ihr eine Haarsträhne über die Schulter, schmutzig und klebrig. Wie lange hatte sie ihre Haare nicht gewaschen, wie lange trug sie diesen Pulli schon? Wieso hatte ihre penible Mutter diese Unordnung zugelassen? Fragen schossen durch Olivias Kopf. Saskia hatte nicht auf die Sauberkeit ihrer Kleider geachtet. Saskia hatte nicht aufgepasst, was ihre Tochter trägt, wie sie herumläuft. Saskia hatte sich nicht gekümmert? Nein, das konnte nicht wahr sein, das war unmöglich, dass diese perfekte Frau, die größten Wert auf Gretas Outfit und Erziehung legte, sie als verwahrlostes Balg umherlaufen ließ.
Stille im Raum. Blicke kreuzten sich und blieben ineinander gekettet stehen, während sich Gretas schmaler Körper zwischen Olivias kräftigen Oberschenkeln und dem Coachtisch hindurch schob, jegliche Berührung vermeidend.
„Wo kann ich etwas über Deine Mama erfahren?“ , fragte Olivia vorsichtig. Die Verandatür öffnete sich.
„Fahr zum Frank , der weiß alles“, die Verandatür schnappte zu und Greta verschwand über die Terrasse.
Olivia folgte Gretas Aufforderung blind. Stieg ins Auto und fuhr los, um ihre Freundin zu suchen. Gretas düstere Prognose entsprang wohl einer kindlichen Phantasie, aber sie wirkte wie ein Orakel. Argwohn und Beklemmung breiteten sich flutartig aus. Das waren keine Sorgen mehr, das war ein panisches Gefühl, welches Olivia erfasste. Etwas war geschehen, und sie musste herausfinden was. Also fuhr sie los in die Ungewissheit, in die geheime Welt ihrer Freundin, zu deren Liebhaber, zu Frank.
Vorsichtig bog Olivia von der Böcklinstraße auf die Tizianstraße. Potsdam lag in leichtem Nebel, was hier in der Seenlandschaft häufig vorkam. Um ein Haar hätte sie das feuerrote Eichhörnchen übersehen, welches den Versuch machte, die Straße zu überqueren. Mitten auf der Fahrbahn verharrte es, schien umzudenken, machte kehrt, rannte zurück in die Rabatte hinein und verschwand. Olivia bremste. Eigentlich könnte sie das Selbe tun, umdrehen und wegfahren, aber wäre das nicht eine Flucht vor der Realität? Welche Realität, wie sah die aus im Falle von Saskia? Ihr Fuß drückte sachte auf das Gaspedal. Olivia fuhr weiter, der Fuß hatte entschieden, sagte sie sich tröstend, gleichzeitig kramte ihre Hand in der Tasche auf dem Beifahrersitz. Irgendwo zwischen Geldbörse, Notizblock und den unzähligen Kugelschreibern, die sich im Laufe ihrer Zeit als Dolmetscherin angesammelt hatten, befand sich ein alter Schokoriegel, das wusste sie genau. Gierig durchwühlten ihre kleinen dicken Finger den Lederbeutel und wurden fündig. Es war ein Rückfall in die Steinzeit, zweifellos. Seit sie bei den Weight Watchers war, zählte sie jede
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