Rückwärtsleben: Roman (German Edition)
Bemühungen hatte mich der Begriff Tragödie immer kaltgelassen. Ich mochte keine Stücke, die anscheinend nur geschrieben worden waren, um zu beweisen, dass die darin geschilderten Ereignisse unvermeidlich waren und zu einem von launischen Göttern ans Firmament gemeißelten Plan gehörten. Als ich mit neun Jahren zum ersten Mal Romeo und Julia sah, war ich wütend darüber, dass die Klage des Chors zu Beginn die ganze Spannung zerstörte, und bedachte den Chorleiter mit einem finsteren Blick, als ich ihm nach der Aufführung auf dem Parkplatz begegnete. Nach meinem Eindruck war das populäre Verständnis von Ursache und Wirkung noch immer von der antiken Mentalität beeinflusst, die die Tragödie als Ausdruck des ewigen und vergeblichen Kampfes der Menschen gegen überlegene Kräfte betrachtete. »Es sollte nicht sein«; »es liegt in der Hand der Götter«; »wir können nicht wissen, wann wir abberufen werden.« Wie oft hatte ich in Witching und auch sonst auf der Welt diese Ohnmachtsbekundungen gehört? Ich hatte mir zwar nie vorgenommen, die Welt zu verändern, aber vielleicht konnte ich zumindest erreichen, dass einige Menschen sie anders sahen.
Das Einzige, was ich meinen Eltern nicht schickte, war der Hirst-Artikel. Ich war mir nicht sicher, was sie davon halten würden. Mum sollte nicht denken, dass ich ihr Vertrauen missbraucht hatte, und ich wollte auch nicht ihre Überzeugung nähren, dass ich ständig meine Nase in anrüchige Dinge steckte. Allerdings vergaß ich nie, dass ich meinen Erfolg nicht nur mir, sondern mindestens ebenso sehr ihnen zu verdanken hatte. Wie leicht hätte ich ohne Dads Ermunterung Nicholas’ Vorbild folgen und meinen Verstand durch Vergleiche und Rivalität zerstören können! Wäre nur ein Stichpunkt im Leben meines Vaters anders ausgefallen, hätte das möglicherweise zehn von mir verändert; und jetzt hatte ich die gleiche Verantwortung für die Menschen, deren geistige Gesundheit in meinen Händen lag. Mehr denn je war ich der Meinung, dass nicht Chaos das Leben der Menschen bestimmte, sondern eine chaotische Logik. Man konnte das System nachvollziehen und einige Ergebnisse vorhersehen; man brauchte nur genügend Augen, um alle Dominosteine und die Leute im Blick zu behalten, die sie umstießen.
Ich überlasse es den Lesern zu entscheiden, ob die Theorien, die meine Karriere ins Rollen brachten, für die Realität von Belang sind. Zumindest hoffe ich, sie davon überzeugt zu haben, dass ich ungeachtet späterer Ereignisse mit den besten Absichten begonnen habe.
4 Ungefähr alle elf Minuten laut der Studie »Sex in den Siebzigern«, November 1974, Michigan Psychiatric Journal , die darüber hinaus verriet, dass zwanzig Prozent der Männer ihre Frau eher an den Brüsten als am Gesicht erkennen würden und dass dreißig Prozent eine homosexuelle Erfahrung gemacht hatten, für die sie sich schämten. Die Resultate wurden möglicherweise durch die Verwendung fotokopierter Formulare verzerrt.
5 Vielleicht gar nicht so weit hergeholt, wie es klingt. Oliver Sacks’ Bücher über Psychologie, zum Beispiel Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte und Zeit des Erwachens , bescherten dem Autor so eine große Fangemeinde, dass ein inoffizieller Katalog für Sacks-Waren mit Hüten, Brillen und Bartschneidern erschien. Aufgrund eines Gerichtsbeschlusses musste das Unternehmen seine Tätigkeit einstellen, nachdem es seinen Gründer Harry J. Tiller zum Millionär gemacht hatte.
6 Der britische Autor B. S. Johnson war kurze Zeit berühmt für seine anarchische Romantechnik, die besonders in The Unfortunates zum Ausdruck kommt, einem Buch mit siebenundzwanzig losen Kapiteln, die in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können. Dieses »Buch in einer Schachtel«, mit dem Johnson die Auffassung bekundete, dass der konventionelle Roman inzwischen eine archaische Form sei, erlangte einen begrenzten Kultstatus, den es noch heute hat. Johnsons andere Romane fanden jedoch keinen Anklang, und geplagt von finanziellen Problemen und Selbstzweifeln nahm er sich 1973 das Leben.
3
Ein Song für wen?
INTERVIEWER : Worum geht es in Ihren Songs?
BOB DYLAN : In einigen um fünf, in anderen um sechs Minuten Musik.
Nachdem Dad die Gäste bei der Beerdigung seines Bruders ins Haus geführt hatte, setzte er sich allein in eine Ecke, um sich Bob Dylans »Romance in Durango« anzuhören, dessen kratziger Sound sich deutlich von dem verlegenen nostalgischen Geplauder und dem noch peinlicheren
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