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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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Normalitätsgetue mit Teetassen abhob. Damit folgte er einer Gewohnheit, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. Seit meiner Kindheit hatte ich viele Male beobachtet, wie er liebevoll eine Schallplatte aus der Hülle zog und mit der Sorgfalt eines Chirurgen die Nadel herabließ. Manchmal schlug er leise den Rhythmus auf sein Knie, doch meistens saß er einfach reglos da wie eine Katze, um alle Ablenkungen auszublenden. Als einmal meine Mutter hereinplatzte, weil sie glaubte, beim Nachbarn einen Schrei gehört zu haben, ließ er sie drei Minuten warten, bis einer von Joni Mitchells klagenden Refrains verklungen war. Ließ sich eine Unterbrechung partout nicht vermeiden, spielte er die Platte oft noch einmal von vorn ab, auch wenn sich dadurch die Erledigung von Schreibarbeiten um eine Stunde verzögerte. Er war kein Mensch, bei dem Musik »im Hintergrund« dudelte: Wenn eine Platte lief, lauschte er ihr so aufmerksam wie der Bandaufnahme von einem Verhör. Ich wagte es nie, ihn zu stören, bis ich ein Alter erreicht hatte, in dem ich es mit seiner Konzentrationsfähigkeit aufnehmen konnte. Ab diesem Zeitpunkt ging ich hin und wieder mit meinen Hausaufgaben in sein Arbeitszimmer und setzte mich leise zu ihm. Mangels Alternative übernahm ich seinen Musikgeschmack.
    Leider hatte meine Mutter nach ihrem jugendlichen Flirt mit dem Rampenlicht eine Aversion gegen Popmusik entwickelt. Als vielversprechende Sängerin und Schauspielerin hatte sie im Alter von neunzehn mit der Darbietung von »Embraceable You« in einem Londoner Nachtclub einen renommierten Talentwettbewerb gewonnen – der Anlass, bei dem das Foto in unserem Bad entstanden war – und erhielt vom Besitzer sogar das Angebot, dort zweimal pro Woche gegen Gage aufzutreten. Doch statt zum Bühnenidol wurde sie schwanger; die Musikbranche kehrte ihr den Rücken zu, und ihre Familie sagte sich von ihr los. Meine Eltern redeten nie darüber, wie sie sich kennengelernt hatten, und irgendwie malte ich mir die Szene auch lieber in eigener Regie aus: ein verrauchter Club in Schwarzweiß, eine bezaubernde Sängerin auf der Bühne und im Publikum mein Vater, jung, bis über beide Ohren verknallt. Wie auch immer, die Folgen der Romanze waren eher ernüchternd: Mum musste die Hauptstadt und den Trubel des Showbusiness aufgeben und landete in Witching, dem Heimatort meines Vaters, wo sie in der Bibliothek arbeitete und nur noch täglich um fünf vor fünf zum Mikrofon griff, wenn sie die Besucher an das Ende der Öffnungszeit erinnerte.
    Für mich war es eine seltsame Vorstellung, dass durch meine Zeugung ihre Träume geplatzt waren. Manchmal vermutete ich darin einen weiteren möglichen Grund für Mums Frostigkeit mir gegenüber, doch je älter ich wurde, desto weniger überzeugte mich der Gedanke, dass sie mich für meine Geburt bestrafen wollte. Dennoch hatte ich Mühe, der jungen Frau auf dem Foto in die Augen zu schauen, ohne ein vorwurfsvolles Funkeln darin zu erkennen. Jahrelang konnte ich kein ausgiebiges Bad nehmen, weil es mich so zermürbte, ständig ihrem Blick auszuweichen.
    Bisweilen belauschte ich einen Streit, der anscheinend von Dads eigenwillig verschrobenem Musikgeschmack verursacht worden war, doch noch verstörter war ich, als ich mit dreizehn meine Mutter spätnachts zu den wackligen Tönen seines amateurhaften Klavierspiels singen hörte. Ich kauerte auf der verräterischen dritten Stufe. Als das Lied zu Ende war, schloss er sie in die Arme, und sie drückte das Gesicht an seine Brust. Ich kroch zurück ins Bett mit der ernüchternden Einsicht, dass meine Eltern ein Leben hatten, das ich eigentlich kaum verstand. Am nächsten Morgen beim Frühstück wurde ich zurechtgewiesen, weil ich »in der Nacht herumgeschlichen« war, und es fiel mir so schwer wie eh und je, mir meine Mutter als Sängerin oder gar als Liebhaberin vorzustellen.
    Es war unvermeidlich, dass die Musik auf sentimentale Weise meine Gefühlswelt bestimmte. Dieser Zusammenhang überlebte meine kläglichen Teenagerversuche im Songwriting (meine lyrischen Vorbilder, selbst die zahmeren wie »I Want to Hold Your Hand«, waren meinen eigenen Erfahrungen einfach zu weit voraus) und festigte sich im späteren Leben, nachdem ich zu Hause ausgezogen war und meine eigene Plattensammlung aufbauen musste. Jenseits der dreißig hatte ich für meine Begriffe ein Alter erreicht, in dem ich nicht mehr kompetent genug war, um der zeitgenössischen Musikszene zu folgen, sondern mich stattdessen

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