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Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Rückwärtsleben: Roman (German Edition)

Titel: Rückwärtsleben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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Ziel erreicht hat. Was mich betrifft, so war auch meine Karriere gemessen an den üblichen Kriterien nicht misslungen: Ich hatte meine eigene Praxis, habe viele faszinierende Menschen kennengelernt und behandelt, habe Ohne-dich-hätte-ich-das-nie-geschafft-Briefe aus den meisten Teilen der kreativen Sphäre eingeheimst und wurde nie mit Erfolg von einem Patienten verklagt. Trotzdem habe ich nie wirkliche Erfüllung gefunden. Richard rät mir, mich nicht mehr als »der weniger erfolgreiche Doppelgänger, den jeder große Mann braucht« 3 zu verstehen und endlich meine eigenen Verdienste in den Vordergrund zu stellen. »Du kannst den Menschen viel beibringen«, meint er. Er ist der Ansicht, dass ein Buch, in dem ich die Schlüsselfälle meiner Karriere eingehend darstelle, eine interessante und sogar inspirierende Lektüre sein könnte. Ich hoffe, er hat recht. Wenn nicht, kann ich nur vorschlagen, eins von ihm zu kaufen.
    1 Dieser Titel und die weiter oben erwähnte Kinderfibel Skepsis sind schon lange vergriffen. Letztere enthielt Kapitel wie »UFOs und anderer Unsinn« und »Der Tod ist das Ende« und wurde von Pädagogen für ihre kompromisslos harte Haltung gegen die kindliche Fantasie kritisiert.
    2 »How Did They Get There Already?«, New York Times , 5. Mai 1976.
    3 Eine Wendung, die ich in Julian Barnes’ Flauberts Papagei (Zürich 1987) entdeckt habe.

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    Stichpunkte
    Ich schaffte es, nicht nur einen Abschluss an einer Universität in Amerika zu machen, sondern mir dort auch eine Stelle als Autor für das Michigan Psychiatric Journal zu sichern. Manchmal staunte ich über meinen Mut, wenn ich darüber nachdachte, dass ich mir achttausend Kilometer entfernt von Witching eine eigene Existenz aufgebaut hatte. Hauptsächlich war ich jedoch einfach erleichtert, dass mir die Flucht gelungen war. Das Journal hatte einen Stamm von ungefähr siebzehntausend Lesern. Damit war das Publikum für meine Artikel größer als die gesamte Einwohnerzahl von Witching. Ich recherchierte Fälle und schrieb sie nieder, interviewte Spezialisten der Branche und wertete Umfrageergebnisse aus, um herauszufinden, wie oft Menschen an Sex dachten. 4 Sosehr ich mich immer noch nach der Anerkennung meiner Eltern sehnte und sie mit meinen wöchentlichen Telefonanrufen, monatlichen Briefen und Weihnachtsbesuchen zu beeindrucken suchte, Witching an sich hatte ich weit hinter mir gelassen. Mit jedem Weihnachten, das verging, und jedem kleinen Meilenstein meiner Unabhängigkeit wurde der Ort verschlafener und unbedeutender. Meine Heimat war jetzt Michigan. Ich lebte in einer kleinen Mietwohnung einige Kilometer außerhalb von Detroit, hatte Umgang mit den Mitarbeitern von der Zeitschrift – unter anderem mit meinem Redakteur Simon Stacy, der mich jeden Freitag zu einem Drink einlud – und stieg ab und zu in einen Wochenendzug nach New York, um den Freund zu sehen, der unseren Traum verwirklicht hatte.
    In vieler Hinsicht beneidete ich ihn nicht um seinen weltstädtischen Lebensstil. Bei allem Glanz und Glamour und den berauschenden Dimensionen, die dafür sorgten, dass ich bei meinem ersten Besuch ständig mit offenem Mund himmelwärts gaffte – für mich war New York damals eher die Hölle. Ich konnte sehr gut ohne die verschwitzten Subway-Fahrten auskommen, ohne die Luft, die so zäh und schmutzig war, dass sie an den Kleidern klebte, ohne die ununterbrochene Musik rastloser Fahrzeuge, die sich hupend auf ständig verstopften Straßen drängten. Ich genoss es, mein Auto abstellen zu können, ohne bei meiner Rückkehr festzustellen, dass meine Reifen inzwischen offenbar zum Verkauf standen, und es machte mir nicht einmal etwas aus, dass Richard – der immer »ausreichend gut gestellt« war, wie mein Dad ironisch bemerkte – inzwischen fünfhundert Dollar in der Stunde einstrich, ohne auch nur ein Wort sagen zu müssen. (Er hatte sogar eine Patientin, eine erfolgreiche Künstlerin, die ihn ausdrücklich dafür bezahlte, dass er schweigend dabeisaß, während sie Kohledrucke von ihren Problemen machte.) Ich hatte nie die Absicht gehabt, mir durch meinen einzigen bedeutenden »Kontakt« einen Start in New York zu ermöglichen. Allerdings fragte ich mich nach seinen ersten Auftritten als »Dr. Rick« im Fernsehen und in Zeitungskolumnen, ob ich jeden Gedanken an eine eigene Praxis aufgeben und einfach ein Warensortiment mit dem Namen Aloisi herausbringen sollte. 5 Richards Sprache hatte mittlerweile große Ähnlichkeit mit der seines Vaters

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