Rügensommer
Türmen, auf das Wasser und das viele Grün war wirklich hübsch. Sehr viel hübscher als Frankfurt, so viel stand fest.
Kaum auf der Insel angekommen, geriet Norbert, wie Deike ihr Navigationsgerät nannte, völlig durcheinander.
»Bitte wenden Sie, wenn möglich«, tönte es schnarrend aus dem kleinen Lautsprecher.
»Blödsinn«, widersprach sie. »Bergen war doch eben noch ausgeschildert. Das kann ja wohl nicht falsch sein.«
Ihr Vater hatte für sie eine Doppelhaushälfte in Streu – wie kann man einen Ort Streu nennen? – gemietet. Es war sehr praktisch, einen Immobilienmakler in der Familie zu haben! Vor allem, wenn man so oft den Wohnort wechselte wie Deike.
»Es wird dir gefallen«, hatte ihr Vater versprochen. »Gute Ausstattung und eine zentrale Lage direkt am Bodden, aber auch nicht weit vom Zentrum Bergens entfernt.«
Bisher waren die Wohnungen, die ihr Vater ihr besorgt hatte, immer Volltreffer gewesen. Deike war zuversichtlich, dass es dieses Mal nicht anders sein würde.
Auf Höhe von Samtens forderte Norbert sie auf, links abzubiegen.
»Das kann doch gar nicht sein«, schimpfte Deike. Noch immer war Bergen geradeaus angeschrieben, und Streu gehörte quasi zu Bergen, das hatte ihr Vater gesagt. Sie ignorierte die Ansagen, und irgendwann resignierte Norbert offenbar. Das konnte ja heiter werden, wenn ihr Navigationsgerät sich auf dieser Insel nicht zurechtfand.
»Herrschaften«, stöhnte sie, nachdem sie schon über eine halbe Stunde auf Rügen unterwegs war, »könnte man der größten deutschen Insel nicht wenigstens ein kleines Stückchen Autobahn gönnen?« Auf dieser Landstraße kam man nur im Schneckentempo voran. Sie musste sich in Geduld üben, und das war nicht gerade ihre Stärke. Schließlich hatte sie Bergen erreicht.
»In vierhundert Metern links abbiegen«, forderte Norbertsie erneut auf. Deike stutzte. Sollte dieses Kaff nicht östlich von der Stadt liegen? Wahrscheinlich machte die Straße nur einen Bogen. Sie setzte den Blinker und bog links ab.
»Fahren Sie zehn Kilometer.«
So weit noch? Deike zog genervt die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. Die Straßen wurden nicht gerade besser. Geflickter Asphalt, Schlaglöcher, hier und da fuhr sie an Plattenbauten und grauen Siedlungshäusern vorbei. Ziemlich trostlos. Dann wieder sah sie links und rechts nur Felder, über der Straße reichten sich die Zweige großer alter Bäume die Hand. Noch fiel Licht zwischen den Ästen hindurch auf die Fahrbahn, im Sommer, wenn das Laub dicht und dunkelgrün war, würde es hier ziemlich düster sein.
Auch nach zehn Kilometern hatte Deike ihr Ziel noch nicht erreicht. Norbert lotste sie unbekümmert weiter. Immerhin entdeckte sie auf dem kleinen Bildschirm blaue Flächen, die Wasser anzeigten, und las das Wort »Bodden«. Vielleicht war sie doch nicht so falsch, wie sie meinte. Womöglich hatte ihr Vater geschummelt, und die Haushälfte lag nicht so stadtnah, sondern mitten in der Pampa.
»Streu« stand schwarz auf gelb auf dem Ortsschild. Nun musste sie sich durchfragen. Einen Straßennamen gab es nämlich nicht, und sie hatte Norbert
Ortsmitte
eingeben müssen. Vor einem prächtigen weißen Gutshaus arbeitete ein Mann in blauer Latzhose und Gummistiefeln trotz der Kälte und des Windes im Garten. Deike hielt an, stieg aus und ging zu ihm. Sie balancierte fast auf Zehenspitzen, um sich die Absätze ihrer teuren Stiefel nicht in dem feinen Kies der Auffahrt zu ruinieren.
»Entschuldigung«, rief sie so freundlich, wie es ihr eben noch gelingen wollte.
Der Mann richtete sich auf, drehte sich um und sah sie fragend an.
»Ich suche das Haus Nummer fünf. Können Sie mir wohl sagen, wo ich das finde?«
»Wenn Sie mir sagen, in welcher Straße das sein soll«, gab er zurück.
»Es gibt hier keine Straßennamen«, klärte sie ihn auf.
»Ach, gibt es nicht?« War das Ironie in seiner Stimme, oder war der Typ wirklich so dämlich?
»Sie sind wohl auch noch neu hier, was?« Deike lächelte ihn verständnisvoll an. Offenbar hatte sie ins Schwarze getroffen, denn auch er brachte endlich ein Lächeln zustande.
»Nee«, sagte er gedehnt. »Ich bin hier aufgewachsen.«
Sie stutzte. Dann musste er doch wissen …
»Und ich verwette Haus und Hof, dass Sie hier gar nicht sein wollen.«
»Sieht man mir das tatsächlich an?«, fragte sie verwundert.
»Nee«, sagte er wieder. »Aber wenn Sie keinen Straßennamen, sondern nur eine Hausnummer haben, dann wollten Sie jetzt eigentlich im
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