Rügensommer
1.
»Rügen? Was um Himmels willen soll ich denn auf Rügen?« Deike sprang auf und lief zum Fenster.
»Arbeiten«, antwortete ihr Chef ruhig, obwohl sie sehr laut geworden war.
»Aber ich hasse Wattwandern! Das glitscht zwischen den Zehen, und man zerschneidet sich an den Muscheln die Füße.« Verzweifelt ließ sie den Blick über Frankfurts Dächer wandern.
»Rügen liegt in der Ost- und nicht in der Nordsee. Das weißt du genau.«
»Ach, und da gibt es kein Watt?«
»Netter Versuch, aber dumm stellen hilft nicht. Du bist die Einzige ohne Mann und Kind. Du bist ideal für den Job!« Das klang endgültig. »Außerdem warst du neulich noch ganz begeistert, als ich dir die Redaktionsleitung auf einer der beliebtesten Ferieninseln der Deutschen in Aussicht gestellt habe.«
Deike seufzte tief. Konnte sie Hartmann wirklich so falsch verstanden haben, oder war das ein ganz gemeiner Trick? »Ich dachte doch, du sprichst von Ibiza oder Gran Canaria. Oder wenigstens von Mallorca, aber doch nicht von Rügen.«
»Rügen ist absolut trendy.« Sie konnte hören, dass er allmählich die Geduld verlor.
»Verstehe. Nur weiß das außer uns noch niemand, und ich soll dafür sorgen, dass es sich herumspricht.«
Zwei Monate lag das Gespräch inzwischen zurück, und Deike erinnerte sich an jedes Wort. Sie hätte sich länger wehren müssen. Sie hätte ihm das Gefühl geben sollen, dass sie nur Unheil anrichten würde, wenn sie als Redaktionsleiterin die Vorzüge einer Insel anpreisen musste, die sie in Wirklichkeit nicht leiden konnte. Aber Hartmann wäre nicht Hartmann, wenn er mit sanften Bandagen gekämpft hätte. Eine saftige Gehaltserhöhung, die Aussicht, die Redaktion auf Ibiza übernehmen zu dürfen, wenn sie hier ein Jahr durchhielt, schon hatte er sie gehabt. Und nun war sie hier auf dem Weg nach Rügen. Deike konnte noch immer nicht glauben, dass sie sich das antat. Zwei Jahre hatte sie in Berlin gearbeitet und vier in Frankfurt. Hartmann brachte in allen großen Städten Szene-Magazine heraus, in denen die neuesten Restaurants und Clubs vorgestellt wurden. Zu Deikes Job gehörte es auch, die Spielpläne der Theater und Kleinkunstbühnen zu präsentieren, sich die Generalproben neuer Inszenierungen oder auch Kinofilme vorab anzusehen sowie Ausstellungen der Museen zu besuchen. Kunst, Kultur und Unterhaltung, das war ihre Welt, damit kannte sie sich aus. Die Urlauberzeitschriften, die Hartmann ebenfalls herausgab, waren ähnlich aufgebaut. Nur gab es auf den meisten Ferieninseln natürlich mehr über Musik-Clubs und Bars zu berichten als über Kunstausstellungen. Das war Deike nur recht. Sie hätte es auch völlig in Ordnung gefunden, die typischen Sehenswürdigkeiten kennenzulernen, wenn es sich denn um riesige Badelandschaften mit extralangen Wasserrutschen oder spanische Folkloretempel gehandelt hätte. Auf Rügen erwarteten sie so spannende Attraktionen wie ein Jagdschloss mit den Köpfen toter Tiere an der Wand und eine altersschwache Eisenbahn. Das war jedenfalls das, was sie bisher von der Insel wusste.
Deike seufzte. »Komm schon«, sagte sie sich, »so schlimm wird es schon nicht werden.«
Nathalie war immerhin vollkommen begeistert gewesen, als sie von den Umzugsplänen ihrer Schwester erfahren hatte.
»Rügen? Du Glückspilz«, hatte sie ins Telefon gequiekt. »Binz ist im Moment total angesagt. Da soll man unheimlich gut shoppen können. Und in Sellin steht diese süße Seebrücke. Da wollte ich schon immer mal hin!«
Natty war zwei Jahre älter als Deike und ihr großes Vorbild. Da sie in München arbeitete, sahen die beiden Schwestern sich nicht sehr oft. Hinzu kam, dass Natty ihren Urlaub um keinen Preis in Berlin oder Frankfurt verbracht hätte. Sie liebte das Meer. Zu mehr als einem langen Wochenende hatte es darum nie gereicht. Und wenn Deike für eine Woche zu ihrer Schwester nach München gefahren war, dann hatte die immer arbeiten müssen, und sie hatten auch nur die Abende für sich. Das würde jetzt anders werden. Bestimmt würde Natty ihre gesamten Ferien bei Deike verbringen. Dank Rügen!
Sie steuerte den bis unter das Dach vollgestopften Kastenwagen über die Rügenbrücke. Da war plötzlich ein Kribbeln in ihrem Bauch, das konnte sie nicht leugnen. Der Anblick der mächtigen Pylone und der starken Seile, an denen die Brücke aufgehängt war, war ziemlich beeindruckend. Auch die Aussicht auf eine Werft, auf rote Backsteingebäude und die Silhouette von Stralsund mit den vielen
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