Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
tun.«
Sie war schon im Begriff, sich abzuwenden, als der Earl nach ihr rief. »Rechnen Sie mit einer Nachricht von mir«, sagte er. »Ich bin Ihnen äußerst dankbar für Ihren heutigen Rat.«
»Oh, in der Tat, und auch mit einer Nachricht von mir«, fügte Sanburne aalglatt hinzu. »Wir könnten uns Ihre Dienste ja teilen, nicht wahr? Ich besitze viele Antiquitäten, die Sie sicher gerne abwerten möchten.«
Sie hielt die Luft an und zählte bis zehn, doch sie sah keine Möglichkeit, ihm zu antworten, ohne die Regeln des Anstands noch weiter zu strapazieren. Nach einem stummen Knicks vor dem Earl wandte sie den beiden den Rücken zu und zerrte ihre Schwester mit sich, um sie in Sicherheit zu bringen.
2
Als der letzte Besucher aufgebrochen war, kehrte Lydia zu ihrem Stuhl zurück. Wie anstrengend die gesellschaftlichen Pflichten während der Londoner Ballsaison doch sein konnten. In ihren Augen war alles ein hanebüchener Unsinn, der sich durch die gewaltige Anzahl von Ritualen, die ihn umgaben, den trügerischen Anschein von Substanz gab. Sophie hatte heute für die halbe Stadt Hof gehalten, was ein echter Triumph gewesen wäre, wenn die meisten nicht ausschließlich gekommen wären, um Lydia anzugaffen. Das Debakel im Institut hatte in allen Gesellschaftskolumnen Erwähnung gefunden.
Als sie sich vorbeugte und nach ihrer Teetasse griff, drang Georges Stimme aus dem Flur herein. Unmöglich, sich nicht zu verkrampfen, während sie sich wieder zurücklehnte. Durch Anas Einführung in die Gesellschaft waren sie noch bis August gezwungen, unter demselben Dach zu leben, und die erzwungene Nähe zu ihm ging ihr langsam auf den Geist. Erst gestern Abend hatte Sophie sie diskret beiseitegenommen und sie über seine ungeheure Bestürzung aufgrund ihres Vortrages informiert. »Er findet, du hättest lieber schweigen und es jemand anderem überlassen sollen, auf die Fälschung hinzuweisen«, hatte sie gesagt.
Diese Scheinheiligkeit hatte Lydia die Sprache verschlagen. Für gewöhnlich hütete sich George, ihr Verhalten in irgendeiner Weise zu kritisieren. Schließlich hatte sich der schockierendste Fauxpas, der ihr je unterlaufen war, in ebendiesem Raum ereignet, und zwar wegen ihm .
Die Erinnerung daran hatte sie hinreichend aus dem Gleichgewicht gebracht, sodass sie fast im Begriff war, etwas Unüberlegtes zu erwidern. Doch als sich nun die Tür öffnete, war es nur Ana, die eintrat. Sie überflog die Visitenkarten, die ihre Gäste hinterlassen hatten. »So viele Besucher«, murmelte sie. »Haben wir je so viele gehabt?« Sie blickte lächelnd auf. »Hast du Miss Marshalls Bemerkung gehört, als sie hereinkam? Sie hielt es für eine Teegesellschaft!«
Lydia, die sich langsam wieder beruhigt hatte, lächelte zurück. Anas Lächeln war einfach ansteckend, Mr Pagett jedenfalls, dritter Sohn des Earl of Farlow, schien davon bezaubert zu sein. Darin waren sich die drei Schwestern einig: Wenn er in den nächsten zwei Wochen um sie anhielt, würden sie auf eine Hochzeit im September drängen. Ana wünschte sich Flitterwochen in Norditalien, wo es im Herbst herrlich sein sollte, und Sophie wollte noch vor ihrer Reise an die Riviera im Oktober von ihren Aufsichtspflichten befreit sein. Und je früher Ana unter der Haube war, umso schneller konnte Lydia ihre Kampagne fortführen, Gelder für Papas Projekt zu beschaffen. Der Vortrag war nur der Anfang gewesen. Als Nächstes wollte sie durchs ganze Land reisen und höchstpersönlich bei jedem reichen Amateur-Ägyptologen um Unterstützung bitten, der je auch nur einen Papyrus gekauft hatte. Sie konnte sich nicht länger darauf verlassen, dass der Antiquitätenhandel Papas Projekt finanzierte. Er lenkte ihn nur von seiner eigentlichen Arbeit ab und hielt sie in London fest, obwohl sie sich viel lieber in Ägypten aufhielte, um bei der Koordinierung der Ausgrabungen zu helfen und eigene Forschungen zu betreiben.
Ana warf die Karten auf den großen Tisch und ließ sich auf einem Stuhl in ihrer Nähe nieder. Sie trug ein hübsches weißes Tüllkleid, wie es sich für eine junge Frau in ihrer ersten Ballsaison ziemte. Leider konnte man ihre Fußknöchel sehen, was weniger angemessen war. »Du warst heute sehr beliebt, Lyd.«
Ihre Stimme klang so perplex, dass Lydia sich ein Lächeln verkneifen musste. Ihre Schwestern waren es nicht gewohnt, von ihr in den Schatten gestellt zu werden. Zwar hatten sie alle drei Mamas haselnussbraune Augen und ihr gewelltes schwarzes Haar geerbt,
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