Rühr nicht an mein dunkles Herz (German Edition)
keine Gegenleistung.
Schweigend packte sie ihre Manuskriptseiten zusammen. Ihre Finger zitterten. Armselig. Diese Orientalisten! Schon ihr ganzes Leben hatte sie es miterlebt: Ein Wort über Pharaonen und gestandene Männer führten sich auf wie Schuljungen. Sogar Papa, der ergebenste Ehemann seit Menschengedenken, hatte die Nachtwache an Mamas Krankenbett unterbrochen, als ihn die Nachricht erreichte, dass irgendein Würfelhocker aus Kairo eintreffen sollte. Lydia hatte in dem abgedunkelten Schlafzimmer gesessen und mit einer Hand die Stirn ihrer Mutter befühlt, während sie gleichzeitig Sophies Schulter und Antonias kleine, zitternde Finger tätschelte. Von draußen hörte sie das leiser werdene Rumpeln seiner Kutsche, die sich schnell vom Haus entfernte.
Damals war sie erst sechzehn, und es war ganz bestimmt niemandem bewusst, dass Mamas Fieber einen tödlichen Verlauf nehmen würde. Trotzdem stand ihr die Zukunft plötzlich deutlich vor Augen. Papa unterstützte sie zwar bei ihren Studien, doch auf seine ungeteilte Aufmerksamkeit durfte sie nicht zählen. Es sei denn, auch sie selbst machte seiner Geliebten, Lady Ägypten, den Hof.
Nun, wenigstens hatte Papas Leidenschaft eine wissenschaftliche Basis. Soweit sie es beurteilen konnte, benutzten die meisten anderen Ägyptologen die Archäologie als Tarnung und waren insgeheim wie Weiber von glänzendem Tand fasziniert. Sie beäugte den Eindringling noch einmal. Er war beiseitegetreten und beobachtete mit einem zufriedenen Lächeln das Scharmützel, das er verursacht hatte. Dabei tippte er selbstvergessen mit seinem Finger gegen die Oberlippe. Jetzt sah sie, dass Tand auch diesen Mann hier reizte. An seinen Fingern trug er ein Überangebot von mit Edelsteinen besetzten Ringen sowie eine geschmacklose türkis-silberne Taschenuhr am Revers. Und er hatte ganz sicher stundenlang sitzen müssen, bis es seinem Kammerdiener gelungen war, diese Locke aus sonnengebleichtem Haar dazu zu bringen, ihm genau auf diese Art in die Stirn zu fallen. Ein eitler Pfau. Ein zerrupfter Gockel hatte ihren Vortrag ruiniert! Schlimmer als das, er hatte auf einen Schlag die Grundlage aller Pläne, die sie und Papa je geschmiedet hatten, zunichtegemacht.
Der Rothaarige freute sich jetzt diebisch. Sie bekam zwar nicht den genauen Wortlaut mit, aber immerhin den Rhythmus dessen, was er Ayresbury ins Ohr gackerte. Hohn und Spott. Da ging also jede Chance auf Förderung flöten. Wenn die Nachricht von diesem Debakel Kairo erreichte, würde Papa schrecklich enttäuscht sein. Er hatte auf Ayresburys Unterstützung gezählt. So wie sie darauf gezählt hatte, sie ihm zu sichern. Sie schuldete ihm das.
Mit plötzlicher Wut raffte sie ihre Röcke hoch und marschierte nach vorn. Ihr fuchsroter Kritiker brummte missbilligend, als sie vorbeirauschte, doch sie beachtete ihn gar nicht. Sie setzte die Ellbogen ein, um sich durch das Gewühl zu kämpfen, ignorierte die verschiedensten Beschwerden und blieb so nahe an der ägyptischen Stele stehen, dass ihre Röcke fast die Kante der Steinplatte berührten.
Ein Blick reichte. »Das ist eine Fälschung«, verkündete sie.
Niemand schien sie zu hören.
»Das ist eine Fälschung !«
Ihre Vehemenz erschreckte sogar sie selbst. In dem kurzen, darauffolgenden Schweigen, während ihre Wut langsam verrauchte, fragte sie sich, was sie da angerichtet hatte. Sie klappte den Mund auf, um ihr scharfes Urteil zu relativieren, aber ihr kam jemand zuvor.
»Nie im Leben«, rief ein Gentleman aus, der sich in Missachtung allen Anstands auf Hände und Knie niedergelassen hatte, um genauer hinsehen zu können. »Im Gegenteil, das Stück weist alle Merkmale von Authentizität auf!«
Das war nun doch ein bisschen übertrieben, dachte sie.
»Eine solche Rarität!«, gurrte ein anderer. »Lord Sanburne hat ein Wunder ausfindig gemacht! Sehen Sie sich nur die … «
»Genug jetzt«, bellte der ältere Gentleman, dem die Stele präsentiert worden war. Seine wässrig blauen Augen richteten sich auf Lydia. Als er vortrat, teilte sich die Menge um die beiden. »Verfügen Sie über Kenntnisse dieses Artefakt betreffend, Miss Boyce?«
»Und ob sie das tut.« Das kam von Antonia, die von Parfüm umwölkt zu ihnen trat (Sophies Spezialmischung aus Paris; ein Schnuppern bestätigte es) und sich bei Lydia unterhakte. Lydia hatte sie ein ums andere Mal ermahnt, dass Debütantinnen nicht so schwere Düfte trugen, aber Sophie musste Antonia ja unbedingt darin bestärken.
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