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Rütlischwur

Rütlischwur

Titel: Rütlischwur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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getünchten Wand das Kreuz Jesu Christi.
    Unweigerlich dachte Bruder John an Golgatha. Und vielleicht fiel ihm gerade deshalb der springende Punkt erst in diesem Augenblick ein.
    »Natürlich müssen wir diese Neuerung öffentlich machen. Schließlich sollen die Mütter wissen, dass sie bei uns diese Möglichkeit haben …«
    Der Abt hob langsam das Kinn: »Öffentlich«, sagte er in ruhigem, gefasstem Ton. »Ganz richtig. Und gerade darin liegt das Problem.«
    Die Babyklappe , wie Bruder Johns Idee inzwischen klosterintern genannt wurde, war auch in den folgenden Sitzungen ein Thema, auch wenn man sich mit der konkreten Umsetzung Zeit lassen wollte. Bruder John war zuversichtlich, ja, sogar hoffnungsfroh. Wenn die Kirche das ungeborene Leben schützte, warum sollte sie es mit dem geborenen anders halten. Dass der Begriff Babyklappe nicht von ihm selbst stammte, störte ihn nicht. Denn im Kloster Einsiedeln war es kein Geheimnis, dass er der Vater dieses durchaus bemerkenswerten Gedankens war.
    So war es kein Zufall, dass man sich an Bruder John wandte, als am Abend des 26. November desselben Jahres ein Mädchen den Weg ins Kloster fand.
    »Sie ist in meinem Büro«, war der erste Satz, den Bruder Pachomius herausbrachte, nachdem er mit hastigem Klopfen in Johns Zimmer hereingeplatzt war. Er nahm seine Nickelbrille ab und fuhr sich mit dem Ärmel seiner Kutte über die schweißnasse Stirn.
    »Wer?«, fragte John.
    »Ein Mädchen. Nach der Vesper ging ich zurück … Ich muss doch die Katalogisierung vorantreiben. Da stand sie … Das Fens­ter eingeschlagen.«
    Die beiden Mönche eilten durch die Gänge in Richtung Westflügel. John tat sich schwer, sein Tempo zu drosseln – auch wenn er kurze Beine hatte, untersetzt und pummelig war. Immer wieder musste er innehalten, weil der zweiundsiebzigjährige ­Pachomius stehen blieb und schweißgebadet nach Luft rang.
    Als sie um die letzte Ecke bogen, sah John, dass die Tür des besagten Zimmers weit offen stand. »Sie ist bestimmt schon über alle Berge«, murmelte er.
    »Dass ich so was noch erleben muss«, keuchte Pachomius.
    Aber das Mädchen war noch da. Sie saß auf der Kante des Schreibtisches und hielt ein Buch in den Händen. Als sie die beiden Mönche erblickte, stand sie auf.
    »Hier.« Pachomius zeigte auf das Mädchen. Es war ungefähr eins fünfzig groß, trug ausgeblichene Jeans und einen verfilzten, sandfarbenen Wollpullover, der ihr bis zu den Knien reichte. »Sie ist noch da.«
    Das Mädchen blickte Bruder John direkt an. »Ich bin Judith. Ich brauche etwas zum Essen und neue Kleider.«
    Kein Baby, schoss es Bruder John durch den Kopf. Er nickte. »Wie alt bist du?«
    »Dreizehn.«
    »Ein Teenager also.«
    »Ja.« Das Mädchen verzog den Mund. »Ich war bei den Pferden gewesen, draußen …« Sie deutete in die Richtung, in der die Stallungen lagen. »Dort habe ich mich eine Weile versteckt. Aber jetzt habe ich Hunger, und mir ist kalt.«
    »Hast du die Scheibe eingeschlagen?«
    »Ja. Ich dachte, ich finde hier einen Kühlschrank. Oder Vorräte … In einem Kloster habt ihr doch so was, oder?«
    Bruder John musterte das Mädchen. Ihre kurzen schwarzen Haare waren zerzaust. Sie hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem energischen Kinn. Obwohl sie abgemagert und bleich war, erschien sie dem Klosterbruder keineswegs hilflos. Das Auffälligste aber waren ihre Augen: Sie glänzten in hellem Grün, wie frischpolierte Jadesteine. Und zu seinem Erstaunen konnte Bruder John keinerlei Angst oder Argwohn in ihnen entdecken. »Das hier ist das Büro von Bruder Pachomius«, sagte der Mönch leise. »Pachomius betreut zusammen mit fünf Brüdern die Stiftsbibliothek.«
    Der alte Mann nickte und ließ die Schultern hängen.
    Einen Moment dachte Bruder John darüber nach, wie wenig seine bisherigen konzeptionellen Ideen zur Lösung des akuten Problems beitrugen.
    »Und jetzt?«, fragte das Mädchen.
    »Ich schlage vor, wir essen und trinken erst einmal etwas«, sagte John. »Dann schauen wir weiter.«
    Abt Sebastian Watter, der in Zürich an einer Podiumsdiskussion teilgenommen hatte und kurz nach Mitternacht ins Kloster zurückgekehrt war, erfuhr erst am nächsten Morgen von dem neuen Gast. Gleich nachdem ihn Bruder John über den Fall unterrichtet hatte, bat er das Mädchen zu sich, für ein Gespräch unter vier Augen.
    Watter war es gewohnt, in seinem Kloster Gäste aufzunehmen. Denn die Gastfreundschaft war Teil jener Regula Benedicti,

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