Rütlischwur
die der heilige Namensgeber des Ordens vor fünfzehnhundert Jahren verfasst hatte.
Häufig waren es Manager, die sich in ihren Konzernen eine Auszeit erbaten, um über den Sinn des Lebens nachzudenken. Es waren Menschen mit einer wohldefinierten Vergangenheit, die sich über ihre Zukunft im Unklaren waren.
Mit diesem Mädchen, das ihm nun seit einer knappen halben Stunde gegenübersaß, verhielt es sich genau umgekehrt. Sie besaß sehr klare Vorstellungen, was ihre Zukunft anging. Über ihre Vergangenheit dagegen schwieg sie sich aus.
»Du möchtest also hierbleiben«, fasste der Abt zusammen. »Und du willst bei uns in die Stiftsschule gehen und etwas lernen.«
Judith nickte. »Genau das will ich.« Ein kurzes Lächeln huschte über ihr mageres Gesicht. »Und ich weiß auch, dass eine solche Ausbildung Geld kostet«, fuhr sie fort. »Dafür möchte ich arbeiten. In der Küche … oder, was mir viel lieber wäre, bei Bruder Pachomius. Die Katalogisierung der Bibliothek … Da gibt es noch sehr viel zu tun. Ich kann das.« Sie machte eine kurze Pause. Als der Abt weder nickte noch etwas dazu bemerkte, sagte sie: »Wenn mein Lohn dafür nicht reicht, würde ich die Differenz gerne später zurückzahlen. Ich unterschreibe auch einen Darlehensvertrag. Ich werde später Wirtschaft studieren. Und ich werde Geld verdienen. Sehr viel Geld.«
Der Abt dachte nach. In gewisser Weise gefiel ihm die Zielstrebigkeit dieses Teenagers. Sie war ungewöhnlich. Auf der anderen Seite missfiel ihm das Ziel. Abt Sebastian dachte an die Manager, die – sofern sie den Weg zu ihm ins Kloster gefunden hatten – mit ebendieser Zielsetzung haderten und sie oft genug als Irrweg bezeichneten.
Trotzdem äußerte er keine Einwände. Er würde John damit beauftragen, mehr über das Mädchen herauszufinden. Auch nach den internationalen Vermisstenanzeigen bei der Polizei mussten sie sich erkundigen. Bestimmt gab es Eltern, die bereits in großer Sorge waren. Nicht selten klärten sich solche Fälle innerhalb kürzester Zeit auf. Der Abt blickte eine Weile in das junge Gesicht, dann beschied er: »Du kannst bleiben. Und einen Vertrag brauchen wir nicht.«
Im März des darauffolgenden Jahres erreichte Bruder John ein Brief. Die Marke zeigte Lady Augusta Gregory (in nachdenklicher Pose) und trug den Schriftzug EIRE. Der Poststempel war nicht zu entziffern. John wusste dennoch sofort, dass es der Brief war, auf den er gewartet hatte. Eine Mischung aus Erleichterung und Neugier erfasste den Mönch. War sein Schreiben also doch angekommen?
Vier Wochen lang hatte John daran gezweifelt, denn Judiths Informationen waren dürftig gewesen. Ein Landgut im Süden von Irland. Merryborough oder so ähnlich, und ein Mann namens Ernest Bill. Von einer alten Frau war einmal die Rede gewesen, und von Eseln und Gänsen.
Der Mönch hatte sich wirklich Mühe gegeben. Hartnäckig hatte er Judith immer wieder auf ihre Vergangenheit angesprochen, hatte nach ihren Eltern, Geschwistern und Verwandten gefragt. Doch je mehr er insistierte, desto verschlossener gab sich das Mädchen. Einmal, als er ungeduldig geworden war und mit der Polizei gedroht hatte, war Judith plötzlich verschwunden. Für drei unendlich lange Tage. In dieser Zeit hatte John sich geschworen, künftig behutsamer vorzugehen. Inzwischen gab es Momente, in denen er einfach vergaß, dass er über Judiths bisheriges Leben so gut wie nichts wusste. Ironischerweise waren es gerade diese Augenblicke, in denen Judith von sich aus etwas preisgab. Eine kleine Geschichte oder – was leider viel häufiger der Fall war – nur eine kurze Bemerkung.
Es gab Nächte, in denen John sich in seiner Selbstbetrachtung mit einem Fastenden verglich, den man immer mal wieder mit kleinen Häppchen in Versuchung führen wollte. Und nicht selten drängte sich der Gedanke auf, dass Judith ein Spiel mit ihm trieb. Vielleicht hatte sie aber auch Angst, dass man sie an ihre alte Welt zurückverwies, und empfand ihre Anonymität als Schutz. Aber welche Welt war es, aus der Judith gekommen war? John machte sich nichts vor. Es war gut möglich, dass Judith etwas zu verbergen hatte und sich deshalb über ihre Vergangenheit ausschwieg.
Judith ahnte nicht, dass es John gelungen war, aus ihren spärlichen Angaben eine Adresse zusammenzusetzen; diese Adresse war zwar nicht vollständig, aber vielleicht würde der Brief, den der Bruder geschrieben hatte, sein Ziel doch erreichen:
Ernest Bill
Country Estate or
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