Ruf der Dämmerung (German Edition)
kein Artgenosse zum Gute-Nacht-Sagen findet.«
Viola kicherte. Das klang nicht nach dem typischen Umfeld ihres lebenslustigen Vaters. »Internet?«, fragte sie vorsichtig. Sie hatte ihren Laptop im Koffer und eigentlich gehofft, Katja heute schon die erste Mail schicken zu können.
Patrick runzelte die Stirn. »Ja, aber bei Regen oder Sturm kann’s schon mal ausfallen … Nun guck nicht so panisch!« Er grinste ihr zu. »Vor Erfindung des Internets hat man am Lough Dan auch überlebt. Uralte Kulturlandschaft. Ein paar Kilometer weiter liegt Glendalough, da hat schon der heilige Kevin gewirkt …«
Viola verdrehte die Augen. Der heilige Kevin war ihr herzlich egal, sie wollte Katja!
Patrick steuerte den Bus aus den Vororten von Dublin heraus Richtung Wicklow County. Für die Fahrt würden sie kaum mehr als zwei Stunden brauchen, aber es war doch wie ein Eintauchen in eine andere Welt, als sie die Schnellstraße schließlich verließen und durch ländliche Gegenden und winzige Orte zuckelten. Die Straßen wurden dabei immer schmaler und kurviger, das flache Land um Dublin wich gebirgigen Abschnitten. Sie kamen dem Wander- und Erholungsgebiet deutlich näher, in dem Lough Dan und Roundwood lagen. Irlands höchstgelegenes Dorf, wie ihr Patrick jetzt verriet.
»Beliebter Urlaubsort. Du kannst fischen, wandern, reiten – reitest du übrigens? Der alte Bill ist schon ganz wild auf das Mädel aus Deutschland. Er ist überzeugt, da wären alle verrückt nach Pferden. Und er hofft natürlich auf kostenlose Hilfe bei den Ponys …«
»Reiten? Ich?« Viola hatte nicht genau hingehört, sondern sich auf die faszinierende Gebirgslandschaft konzentriert, die sich jetzt vor ihr auftat. Außerdem war ihr etwas schlecht von all den Kurven. Aber der Gedanke an Pferde zerrte sie unsanft in die Wirklichkeit zurück. Nachdem Katja vor einem Jahr eine kurze Zeit in ein Pferd namens Blacky verliebt gewesen war, wirkte auf Viola schon die Erwähnung dieser Tiere wie blanker Horror. Drei Monate lang hatte Katja nur von Pferden gesprochen – aber dann war zum Glück ein Junge namens Toby in die Wohnung nebenan gezogen und Katja hatte sich anderweitig orientiert. Viola hielt Toby zwar auch für einen Langweiler, aber wenigstens roch er nicht so streng.
Patrick grinste. »Dein Dad hat ihm schon gesagt, dass du dir aus den Viechern nichts machst, aber das glaubt er nicht. Bill glaubt grundsätzlich nur, was er glauben will. Ich persönlich finde ihn etwas anstrengend … aber du wirst schon mit ihm klarkommen …«
Die letzte Bemerkung klang bemüht tröstlich. Anscheinend hatte Viola schon wieder etwas leidend ausgesehen.
»Bill ist Ainnés Vater, nicht?«, erkundigte sie sich.
Patrick nickte.
Viola seufzte. Noch ein Mitbewohner, mit dem sie sich arrangieren musste. Aber wenigstens Patrick war nett.
Nach fast endloser, kurvenreicher Fahrt erreichten sie Roundwood – wie erwartet ein Nest, aber einladend gestaltet mit bunt bemalten Fassaden und alten Ladenschildern. Patrick hielt vor einem Supermarkt und Viola taumelte aus dem Auto. Wenn sie tief durchatmete und sich etwas bewegte, musste sie sich vielleicht nicht übergeben … Schließlich half sie Patrick, ein paar Kisten mit offensichtlich telefonisch bestellten Lebensmitteln einzuladen, und fühlte sich dann wirklich etwas besser.
»Da ist die alte Schule«, erklärte Patrick, als sie weiterfuhren, und wies auf ein hübsches altes Gebäude. »Und gleich dahinter das neue Schulzentrum. Nicht so schön, aber angeblich ganz modern ausgestattet. Ich kann’s dir nicht sagen, als ich klein war, saßen wir noch im alten Haus. Da gab’s keine Computer, aber dafür spukte es.«
»Und wie komm ich hier jeden Tag hin?«, fragte Viola mürrisch und starrte unglücklich auf ein Straßenschild: Lough Dan 3 Meilen. Dabei reichte es ihr jetzt wirklich mit dem Autofahren. Schon nach den ersten drei Kurven durchs Dorf hatte sie das Gefühl, sich erneut grünlich zu verfärben.
»Schulbus«, meinte Patrick. »Sie sammeln dich ein, keine Sorge. Und es ist die höchstgelegene Highschool Irlands.« Er grinste.
»Schau, da ist der See.«
Eine weitere Kurve gab den Blick auf den Lough Dan frei und Viola vergaß ihre Übelkeit fast. Der Anblick war sensationell, gerade jetzt im Sonnenschein. Der kleine See, eingeschlossen von Bergen, war glatt wie ein Spiegel und warf das Bild der Gipfel zurück. Es war, als blicke man in ein Zauberland von Schluchten und verwunschenen Tälern unter dem
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