Ruf der Toten
in der Willow Road von Hampstead ihr Zuhause? Nichts hier kam ihr vertraut vor, am allerwenigsten Paul. Wer war er? Ihr Freund? Warum verhielt er sich dann so, als misstraue er jedem einzelnen Menschen, allen voran ihr? Als müsste er sie ans Bett fesseln?
Die Vorstellung, mit ihm zusammengelebt zu haben, war ihr so unbegreiflich, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf das richtete, was real war. Weiße Nelken und rote Lilien in einer Vase auf ihrem Nachttisch. »Du magst doch Nelken«, hatte Paul gesagt, als er ihr vorhin den Strauß präsentiert und sie dabei so hoffnungsvoll angesehen hatte, als erwarte er, die bloße Erwähnung der Blumenart würde etwas in ihr auslösen. Als sei Nelken ein Zauberwort. War es aber nicht. Enttäuscht hatte er sich über sie geneigt, um sie zu küssen, doch ihr Gesicht war unwillkürlich zur Seite gerückt, sodass seine Lippen nur ihren Hals getroffen hatten. Aus dem Augenwinkel hatte sie gesehen, wie er zu einer enttäuschten Bemerkung ansetzte, diese dann herunterschluckte und meinte: »Alles wird wieder gut.«
Sie hatte ihm keine Antwort darauf gegeben. Denn sie war sich keineswegs mehr sicher, ob das stimmte. Egal, was vor ihrem Tod – Gott, wie das klingt! – gewesen war, was sie jetzt erlebte, gewährte ihr einen völlig neuen Blick auf ihr Leben und die Menschen, die dazugehörten. Diese Einsichten würde sie, auch wenn ihr Gedächtnis zurückkehrte, nicht einfach so vergessen können.
Bevor ihre kreisenden Gedanken sie wahnsinnig machten, schwang sie die Beine aus dem Bett. Es hatte keinen Sinn, länger auf den Schlaf zu warten, der sowieso den Weg zu ihr nicht finden würde. Im Kleiderschrank fand sie Sachen, die ihr passten. Sie entschied sich für eine bequeme Jeans und einen Pullover, bevor sie sich auf den Weg in die Küche machte. Auf halbem Weg die Treppe hinunter hörte sie Stimmen aus dem Wohnzimmer. Sie verharrte regungslos auf den Stufen.
»Ich glaube nicht, dass das in Ordnung war!« Bart sprach mit gedämpfter Stimme, dennoch verstand Beatrice jedes Wort.
»Ach nein?« Das war Paul, unverkennbar, schon wieder gereizt und aggressiv.
»Nein, definitiv nicht!«
»Dann sag mir doch, was ich hätte tun sollen?«
»Wir hätten ihm zum Beispiel ein Zimmer im ›North Side‹ anbieten können«, schlug Bart vor.
»Grandiose Idee!«
»Immerhin hat er Beatrice von der Straße geholt und sie zu uns gebracht.«
»Das hätte jeder andere Mensch auch gemacht.«
»Es war aber eben nicht jeder andere, sondern er, der sie hergebracht hat. Und offensichtlich ist er der Einzige, dem sie vertraut.«
»Bart, erzähl keinen Schwachsinn«, entrüstete sich Paul. »Darf ich dich daran erinnern, dass ich Beas Freund bin und ich sie in vier Monaten heiraten wollte. Zu wem wird sie also eher Vertrauen haben? Zu mir oder zu einem abgerissenen Penner, der nicht einmal begreift, dass nur ein Arzt Bea in ihrem gegenwärtigen Zustand helfen kann? Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie den Zeitungsartikel nicht gelesen hätten. Wahrscheinlich wären die beiden noch tagelang durch die Kälte geirrt, und das nur, weil Elmi – wenn ich den Namen schon höre! – etwas gegen Ärzte hat.«
»Er wird seine Gründe haben.«
»Herrgott, Bart, spar dir dein Mitleid. Wir haben andere Sorgen! Und du weißt, was Dr. Ridgefeld gesagt hat: Bea soll zur Ruhe kommen; jede Aufregung vermeiden. Glaubst du ernsthaft, mit diesem Penner an ihrer Seite würde sie ihr Gedächtnis wiederfinden?«
»Ein ›Dankeschön‹ wäre aber trotzdem angemessen gewesen.«
»Bart, du musst immer das letzte Wort haben, richtig?«
»Darum geht es gar nicht. Wir tragen doch keinen Wettstreit aus.«
Paul lachte humorlos auf. »Manchmal kommt es mir so vor.«
»Manchmal kommt es mir so vor, als würdest du an irgendwelchen Wahnvorstellungen leiden. Mein Gott, hörst du dir eigentlich ab und an mal selbst zu? Du misstraust den Ärzten im Krankenhaus…«
»Und? Habe ich nicht allen Grund dazu?«
»… diesen armen Schlucker von der Straße scheinst du als Konkurrenz zu betrachten, selbst Dr. Ridgefeld konnte seinen Job nicht tun, ohne dass du jeden seiner Handgriffe kommentieren musstest. Merkst du nicht, dass du dich vollkommen paranoid verhältst?«
Beatrice wollte nicht weiter zuhören. Es interessierte sie nicht, was die beiden Männer dort drinnen für Probleme miteinander hatten. Ihr eigenes Leben war kompliziert genug – sie hatte nämlich keines. Fast so, als gäbe es sie einfach nicht mehr. Als
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