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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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stumm und wartete. Er wusste, dass gerade etwas Wichtiges geschah und jedes Wort unnötig war.
    Ihre Lippen näherten sich seinem Mund. Sie blies sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. »Hanussen ist auch einer wie du.«
    »Aber Hanussen wird…«
    »Pst.« Sie legt ihren Zeigefinger auf seine Lippen. »Ich möchte gar nicht wissen, was wird.« Sie blies wieder die Strähne weg, die ihr ins Gesicht gefallen war. »Ihm steht eine große Zukunft bevor, oder?«
    Philip hatte ein scheußliches Gefühl. Er kramte all das zusammen, was er über Hanussen wusste. Er zwang sich zu einem Lächeln und hoffte, dass es ihm gelang. »Ja, ihm steht…«
    Sie küsste ihn weich und zart auf den Mund. »Pst. Das ist schön. Besser als der Tod.«
    Noch immer spürte er ihren Blick in sich, tief in seine Seele tauchend, wo sie mit unsichtbaren Händen etwas berührte.
    »Anita«, sagte er. Er begehrte sie, wollte ihre Elfenbeinhaut berühren, sie fühlen, riechen, schmecken, sich in ihr Fleisch vergraben. Und er wusste, sie wollte es auch. Sie kam noch näher, ihre harten Brustspitzen, nur durch den Schleier von ihm getrennt, streiften ihn. Er roch den Schweiß, den der Tanz ihr abverlangt hatte, aber es war nicht unangenehm.
    »Besser als der Tod«, wiederholte Philip leise.
    »Aber der Tod erregt mich«, hauchte sie.
    Über ihr Gesicht zog ein Schatten, dunkler als die Nacht. Philip glaubte auf den Grund ihrer Seele geblickt und dort den Ursprung ihrer Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase entdeckt zu haben. Er fühlte sich an seine eigenen Albträume und grauenhaften Visionen erinnert. Er dachte an die Erscheinungen, die weißen, fahlen Gesichter, die toten Leiber, verfault und verdorben, lebendig nur in ihrer Wut. Der Wahnsinn hatte nicht weit von hier begonnen. Auf dem Ku’damm. Und auf einmal verstand er.
    Anita schien den Wandel in ihm bemerkt zu haben. Bevor er sich ihr entziehen konnte, klemmte sie seinen Kopf zwischen ihre Hände und schaute ein letztes Mal in seine Augen.
    »Geh!«, sagte sie. »Geh, aber vergiss niemals die Kraft und die Leidenschaft.« Ihre weichen Lippen pressten sich auf seinen Mund. Dann ließ sie ihn frei. Er stürmte aus dem Zimmer und in den Saal.
    »Hanussen!«, schrie er. Der Magier hielt einer jungen Frau seine Hand an die Stirn, die andere schwebte beschwörend über ihrem Kopf. »Ich brauche deine Hilfe!«
    Hanussen drehte sich um, verärgert über die Störung. Als er Philip erkannte, sprang er auf. »Was ist?«
    »Ich weiß es! Ich weiß, warum ich hier bin. Wir haben nicht viel Zeit!«
    »Warum?«
    Sie durften keine Zeit mehr verlieren. Er riss Hanussen mit sich und sie rannten auf die Straße. Ein neuer Tag war angebrochen. Schnee sank vom grauen Himmel herab. Philip drehte sich ratlos um die eigene Achse, die Stadt war ihm fremd geworden. »Wo liegt der Breidtscheidplatz?«
    Hanussen trabte los. Philip folgte ihm durch das immer dichter werdende Schneegestöber, und bald darauf sah er die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zwischen anderen Gebäuden aufragen, freilich noch nicht von Bomben zerstört, sondern in ihrer ganzen neoromanischen Pracht.
    »Anita ist eine wunderbare Frau«, keuchte Hanussen.
    »Das ist sie«, stieß Philip hervor. Noch immer spürte er ihre Lippen auf seinem Mund, roch er den Duft ihrer Haut. Schneeflocken fanden ihren Weg in seinen Rachen, während er keuchend zu Hanussen aufschloss. »Das ist sie.«
    Er hörte den Schrei der Frau zuerst. Er trieb sich zu noch mehr Eile an. Noch fünf Schritte. Vier. Die Litfaßsäule schälte sich aus der weißen Wand hervor. Er spurtete. Drei Schritte. Zwei. Es war wie in Philips Vision.
    Grossmann hatte die Frau bereits in den Hauseingang gezerrt. Sein Körper steckte in abgewetzter Jacke und Hose, in seinem eingefallenen Gesicht glühte die Mordlust. Er holte mit einer Hand aus, die den Dolch umklammert hielt, den er in den Hals der wehrlosen Frau stoßen wollte. Philip brüllte auf. Grossmann hielt abrupt in der Bewegung inne, in seinem Gesicht spiegelte sich grenzenlose Verwunderung.
    »Du Mörder!« Hanussen erschien wie ein Geist aus dem Schneegestöber und versetzte Grossmann einen heftigen Schlag gegen das Kinn. Klirrend fiel das Messer zu Boden. Der Blick des Mörders irrte gehetzt zwischen Philip und Hanussen hin und her, unfähig zu begreifen, wie die beiden hierher gekommen waren. Er schien seine Chancen abzuwägen, sah ein, dass er unterlegen war, und stieß die Frau weg. Fluchend stürzte er sich in

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