Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
fertig.“
„Es gibt nichts mehr, das ich darin noch vermerken könnte. Ich habe schon vor Jahren aufgehört, Neues auszuprobieren. Das überlasse ich den Jüngeren. Mein Wissen ist hierin festgehalten. Ich möchte, dass du es nun übernimmst und fortführst. Was du darin findest, wird dir eine große Hilfe auf deinem Weg sein. Alles andere liegt in deiner Hand.“
Ich blätterte wahllos in den Seiten. Dort stand viel über Kräuter und andere Heilkräfte der Natur. Der Hexenjahreskalender war genauestens vermerkt. Die Sternenberechnungen für einige Rituale. Gesänge und Formeln. Initiationsabläufe und Weihen. Es war das vollständige Werk einer Hohepriesterin.
Sie reichte mir ein Amulett. Als ich sie fragend anschaute, meinte sie: „Es wird dich auf deiner ersten Initiationsreise in die Gegenwelt beschützen. Die Sterne stehen günstig heute. Wir sollten daher nicht länger warten.“
Auf einem ausgetretenen Pfad, den Generationen benutzt zu haben schienen, folgte ich ihr wenig später in den Wald. Die Sonnenstrahlen drangen nur schwach durch das dichte Blätterdach. Die Baumstämme standen Seite an Seite nah beisammen. Die Äste über uns schienen ineinander verschlungen. Ich konnte nicht sagen, wo hier Norden oder Süden war, denn an keiner Seite der Bäume wuchs Moos. Die Stämme waren glatt, grau und rund. Wie gemalt. Das Laub zu unseren Füßen schien trocken, doch es raschelte nicht. Ich konnte keine Vogelstimmen hören. Kein Knacken im Unterholz deutete auf die üblichen Waldbewohner hin. Ein fremdartiger Wald. Irgendwann kam mir der Gedanke, dass er von außen betrachtet gar nicht so groß wirkte. Wir waren seit Ewigkeiten unterwegs.
„Das alles ist so unwirklich.“
„Ja, Melissa. Ganz recht. Wir haben Bylden Wood bereits hinter uns gelassen und befinden uns in der Grenzwelt. Nicht ganz im Sein und nicht ganz im Nichtsein. Hier sind die Dinge nicht immer das, was sie scheinen, und Raum und Zeit haben keine Bedeutung.“
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, denn alles begann, mich in seinen Bann zu ziehen. Ich roch den würzigen Duft der Kiefern, berührte den dicken Stamm einer uralten Eiche, um das Leben zu spüren, das ihn durchdrang. Verloren in der Vielfalt, die mich hier umgab, hörte ich schließlich den Ruf einer Wölfin durch die Stille brechen. Ohne dass ich es hätte beeinflussen können, entrang sich meiner Kehle eine Antwort.
„Du hast dein Krafttier gefunden“, sagte Großmutter über mir. Ich blickte auf, fand mich auf allen Vieren vor ihr kniend. Dann wieder dieses Heulen – ganz nah. Aus dem Nichts tauchte eine kleine Felsengruppe knapp zwanzig Meter vor uns auf.
Auf deren Spitze stand eine große graue Wölfin mit gelben Augen. Sie sprang den Felsen herab, von einem Vorsprung zum anderen, kam auf mich zu, blieb vor mir stehen. Auge in Auge. Wir blickten uns an, schätzten einander ab. Unsere Stärken, unsere Schwächen. Sie blickte in meine Seele und in mein Herz. Ich tat nichts, um das zu verhindern. Dann heulten wir gemeinsam einen imaginären Mond an, verschmolzen unsere Seelen zu einem Wesen. Als ich die Augen wieder öffnete, stand ich allein direkt vor den Felsen. Jetzt sah ich, dass sie einen Eingang bildeten. Gerade so groß, dass ich hindurch passte. Es zog mich magisch hinein. Ich vergaß Großmutter, hörte nur aus weiter Ferne jemanden sagen: „Jetzt musst du allein gehen. Ich warte beim Haus auf dich. Wenn du den Weg nicht allein findest …“
Dann würde ich sterben. Dann war ich nicht stark genug. Dann war ich nicht, was ich sein sollte. Aber es war egal. Ich verspürte nicht den Wunsch, zurückzugehen. Nur hinein in die Dunkelheit der Höhle. Am Eingang zögerte ich kurz und legte dann das Amulett ab. Etwas sagte mir, dass ich es nicht brauchen würde. Was auch immer Großmutter damit hatte bewirken wollen, es war nicht die Absicht dieser Kraft, die dort drinnen auf mich wartete, ihren Zauber zu akzeptieren. Als ich ein paar Schritte in die Höhle hineingegangen war, umgab mich völlige Dunkelheit. Ich fürchtete mich nicht, sondern wartete nur, bis meine Augen sich daran gewöhnt hatten. Dann ging ich langsam weiter, fand eine Treppe, die aus dem Fels gehauen war und nach unten führte. Von tief aus der Erde heraus hörte ich eine überirdische Stimme meinen Namen rufen.
„Melissa! Melissa, komm zu mir! Komm, meine Tochter, und hab keine Angst!“
Schritt für Schritt ging ich der Stimme entgegen. Die Treppe schien endlos. Je tiefer ich ging, desto
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