Ruf Des Dschungels
mir die nähere Umgebung an.
Ja,
sagte ich mir,
hier fühle ich mich wohl,
und ich ließ den Blick über die kurze, grasbewachsene Startbahn und die kleine Propellermaschine schweifen, deren Inneres komplett umgeräumt worden war, damit wir zusammen mit dem Gepäck hineinpassten.
Ungefähr eine Stunde später waren unser Gepäck und die Kisten sicher verstaut, die Sitze irgendwo dazwischen montiert, und wir durften an Bord. Als Papa meinte, ich könne vorne sitzen, um eine bessere Sicht zu haben, kletterte ich überglücklich neben den Piloten.
Ich drehte mich noch einmal nach Aron und Papa um, die sich im hinteren Teil zwischen das Gepäck quetschen mussten, und hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich den besten Platz bekommen hatte. Mein Tauschangebot aber schlug Papa lächelnd aus.
An der Seite des Piloten
Der Pilot ließ sich neben mir in seinen Sitz fallen und legte seinen Discman auf die Leiste unter dem Armaturenbrett. Er schnallte sich an und zeigte auf ein Paar riesige Kopfhörer, die hinter mir von der Decke der Maschine baumelten. Als ich sie aufsetzte, hörte ich seine Stimme. Er erklärte mir, dass ich über die Kopfhörer mit ihm reden könne, falls ich das während des Fluges wollte. Ich nickte und hängte sie wieder an ihren Platz.
Mit einem kräftigen Ruckeln begannen sich die Propeller zu drehen, immer schneller und schneller, bis sie mit voller Kraft arbeiteten und ein gleichmäßiges Dröhnen ertönte. Das Flugzeug holperte über die unebene Grasfläche, und wir rollten langsam auf die Startbahn zu. Der Pilot drückte den Starthebel durch, die Maschine schoss nach vorn, nahm Geschwindigkeit auf und hob schließlich in den Morgenhimmel hinein ab. Ein Gefühl von Freiheit und Abenteuer übermannte mich, je höher wir stiegen. Fasziniert beobachtete ich, wie die Landschaft unter uns immer kleiner wurde. Der Pilot drehte ab in Richtung des Landesinneren, und unsere Reise über den schier unendlichen Dschungel begann, eine Reise ins Land der Fayu, eine Reise zurück in die Welt meiner Kindheit.
Die Häuser wurden immer vereinzelter, die Straßen waren nicht mehr mit Kies und Schotter befestigt, sondern nur noch reine Sandpisten. Es überraschte mich, wie weit sie inzwischen ins Innere des Dschungels vordrangen, kilometerlange Straßen, die es noch nicht gegeben hatte, als ich ein Kind war. Kurze Zeit später überflogen wir die letzte Ortschaft, und endlich erstreckte sich unter uns nichts mehr als der dichte, undurchdringliche Dschungel, so weit das Auge reichte. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel. Ich starrte hinab auf die Bäume und die Flüsse, die sich ihren Weg durch den grünen Teppich unter uns bahnten. Gelegentlich entdeckte ich eine kleine Hütte am Flussufer. Ich fragte mich, wer dort unten wohl lebte, welcher Stamm diesen Teil des Dschungels bevölkerte.
Ich wollte Papa fragen und drehte mich nach ihm um, doch er schlief, sein Kopf hing nach hinten über die Lehne. Es sah so furchtbar unbequem aus, wie er da eingeklemmt saß zwischen all den Kisten und den Säcken mit Lebensmitteln. Auf einmal fiel mir auf, wie sehr er in den letzten paar Jahren gealtert war; sein Haar war inzwischen vollständig ergraut, die Falten in seinem Gesicht waren tiefer geworden. Erst vor wenigen Monaten hatte er sich in Deutschland einer Operation am Herzen unterziehen müssen. Eine schreckliche und schwere Zeit für die ganze Familie. Der Gedanke, meinen Vater zu verlieren, war einfach unerträglich. Er hatte immer so unbesiegbar gewirkt. Schon als junger Mann hatte er auf all die Annehmlichkeiten der modernen Welt verzichtet und war mit meiner Mutter nach Nepal gegangen, um dort mit ihr und uns drei Kindern bei einem Eingeborenenstamm im Himalaya zu leben. Als ich drei war, mussten wir aus politischen Gründen das Land verlassen und nach Deutschland zurückkehren.
Doch schon bald hatten wir wieder unsere Koffer gepackt und brachen auf nach Indonesien, und zwar im Jahr 1978 in den Dschungel von West-Papua. Es ging zu einem Stamm, der erst ein Jahr zuvor entdeckt worden war: den Fayu. Einem aussterbenden Stamm, von Krieg und Hass entzweit, dessen Angehörige daraufhin endlich den Frieden finden sollten. Und meine Eltern sind bis heute dort geblieben, sie wurden ein Teil des Lebens dieses Stammes, genau wie dieser ein Teil ihres Lebens geworden ist.
Die Landschaft unter uns wurde immer eintöniger, und ich begann mich schläfrig zu fühlen. Langsam wurde ich ungeduldig und fragte mich, wann
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